Mongolische Literatur

C. Damdinsüren

Überblick über die alte mongolische Literatur

Die Schrift- und Literaturdenkmäler der Mongolen reichen nur bis ins 13. Jahrhundert zurück. Wenn wir deshalb bei der Betrachtung der mongolischen Literatur mit dem 13. Jahrhundert beginnen, tragen wir lediglich dem Umstand Rechnung, dass aus einer noch früheren Zeit keine Literaturdenkmäler erhalten sind. Wir schließen jedoch nicht aus, dass es bereits vor dem 13. Jahrhundert eine schriftlich fixierte mongolische Literatur gegeben haben kann. Die Turkvölker, die seit dem 7. Jahrhundert das Territorium der heutigen Mongolei besiedelten, besaßen eine eigene Schrift und eine eigene Literatur, und bis heute ziehen die steinernen Denkmäler, die sie hinterließen, mit ihren eingemeißelten Inschriften die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern aus aller Welt auf sich.
Im 5. Jahrhundert gründeten die Tabgači, deren Sprache mit der mongolischen verwandt ist, die We-Dynastie in Nordchina. Auch sie verfügten zu jener Zeit bereits über eine eigene Schrift und eine eigene Literatur. Das gleiche gilt nachweislich für die Kitan im 10. Jahrhundert, und man darf gewiss annehmen, dass der von diesen Völkern ausgehende kulturelle und literarische Einfluss auch bei den benachbarten Mongolen wirksam wurde. Bereits im 13. Jahrhundert gab es enorme Unterschiede zwischen der gesprochenen Sprache der Mongolen und ihrer Schreibweise. So schrieb man z. B. in uigurischer Schrift aγula (Berg) und egüde (Tür), las aber bereits /aula/ und /eüde/. Für die Entstehung einer derart starken Abweichung bedarf es jedoch mehrerer Jahrhunderte sprachlicher Entwicklung. Diese Tatsache ist es vor allem, die zu der Annahme berechtigt, dass die Mongolen schon lange vor dem 13. Jahrhundert die uigurische Schrift kannten und gebrauchten.
Das älteste mongolische Schriftdenkmal ist der so genannte „Stein des Činggis“ (1), dessen Inschrift auf die Zeit um 1225 datiert werden konnte. Sie enthält die Mitteilung, dass Yesünkei Qonγodor bei einem großen Fest, welches Činggis qaγan (2) an einem Ort mit dem Namen Buqa sočiqai veranstaltete, mit seinem Bogen 335 Ald (3) weit schoss. Das älteste mongolische Schriftdenkmal wurde also zur Erinnerung an einen sportlichen Wettkampf errichtet. Das umfangreichste unter den mongolischen Schriftdenkmälern ist die 1240 verfasste „Geheime Geschichte“ (Mongol-un niγuča tobčiyan), Geschichtswerk und Dichtung in einem.

1 In der vorliegenden Abhandlung werden mongolische Orts- und Personennamen sowie Titel und
einige schwer zu übersetzende mongolische Wörter nach der uiguro-mongolischen Schreibweise
transliteriert. (Anm. R.B.)
2 Činggis qaγan: Transliteration nach der uiguro-mongolischen Schreibweise (s. Anm.1). Die der
„modernen“ (kyrillischen) Schreibweise folgende Transliteration wäre „Tschingis Chaan“ (oder
„Chingis Khaan“). Im Deutschen ist auch die Schreibweise „Dschingis Khan“ gebräuchlich.
(Anm. R.B.)
3 Ald: altes Längenmaß, entspricht einem Klafter bzw. dem Maß zwischen den zwei ausgestreckten
Armen eines erwachsenen Mannes (1,60-1,80 m).


Sie gliedert sich in drei Teile: im ersten werden – zumeist in Form von Legenden – die Ereignisse beschrieben, die sich um das 12. Jahrhundert in der Mongolei zugetragen haben. Anschließend werden in chronologischer Reihenfolge einzelne Begebenheiten seit Ende des 12. Jahrhundert geschildert: Činggis qaγans Jugend, der Zusammenschluss der mongolischen Stämme durch ihn, seine Ernennung zum qaγan. Danach folgt eine sehr knappe Beschreibung der Eroberungszüge Činggis qaγans nach 1211 und der Schaffung des Weltreichs. Viel breiter und detaillierter verfolgt die „Geheime Geschichte“ die Geschehnisse in der Mongolei selbst. Der letzte Teil dieses Werkes ist der Regierungszeit Ögedei qaγans, des Nachfolgers Činggis qaγans, bzw. den Ereignissen von 1227 bis 1240 gewidmet.
Dabei werden die historischen Ereignisse nicht einfach konstatiert, sondern mit Hilfe literarischer Gestaltungsmittel in einem Wechsel von Versdichtung und Prosasprache dargestellt. Der Grundgedanke der „Geheimen Geschichte“ besteht darin, dass es notwendig sei, die Stammesordnung zu überwinden, d. h. die zahlreichen zersplitterten mongolischen Stämme zu einem einheitliches Reich unter einem starken Herrscher zusammenzuschließen. Die politische Situation in der damaligen Mongolei schildert die „Geheime Geschichte“ folgendermaßen:

    „(Es) hatte der Himmel mit seinen Sternen sich gedreht.
    Alle Leute standen in Fehde.
    Sie kamen nicht in ihre Betten,
    sondern raubten sich gegenseitig ihren Besitz.
    Die Erde mit ihrer Rinde hatte sich gewendet.
    Das ganze Volk war im Aufstand.
    Sie lagen nicht in ihren Kissen,
    Sondern bekriegten sich gegenseitig.“ (§254) (4)

4 Übersetzung nach E. Haenisch: Die Geheime Geschichte der Mongolen. Leipzig 1948, S. 125f.

Die Einigung der zahlreichen kleinen zersplitterten Stämme, die einander unablässig befehdet hatten, durch Činggis qaγan war eine bedeutende Leistung, die einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entsprach.
Betrachtet man die „Geheime Geschichte“ unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten, so bietet sie zahlreiche Beweise für die hohe künstlerische Meisterschaft ihres unbekannten Verfassers. Hier möge ein Beispiel für viele sprechen: Im Text der „Geheimen Geschichte“ wird weitgehend auf eine unmittelbare Glorifizierung Činggis qaγans verzichtet. Hingegen trifft man häufig auf Passagen, in denen ihn der Autor aus dem Munde eines der besiegten Feinde rühmen lässt. So klagt Böke čilger (bei Haenisch: Tschilger boko. – Anm.R.B.), der Činggis qaγans Gemahlin geraubt hatte, als er, von diesem besiegt, einsam auf der Flucht ist:

    „Die schwarze Krähe
    hat nach ihrem Los Fellfetzen als Nahrung.
    Dabei aber begehrt sie
    Wildgans und Reiher zu speisen.
    So bin ich, der gemeine Tschilger,
    für die Frau Udschin entbrannt
    und bin zum Unheil
    für die ganzen Merkit geworden.
    Ich, der üble Tschilger niedrigen Standes,
    habe das Unheil über mein eigenes schwarzes Haupt gebracht.
    Ich will mein einzelnes Leben retten
    und mich in die dunklen Schluchten einbohren.
    Aber von wem werde ich beschirmt werden!“ (§111) (5)

Und als Činggis qaγan dem gefangenen Jamuqa (bei Haenisch: Dschamucha. –
Anm. R.B.) vorschlägt:

    „Jetzt sind wir Beide wieder zusammen.
    Laß uns Gefährten sein ...
    Wenn wir etwas vergessen haben, wollen wir uns
    gegenseitig erinnern.
    Wenn wir eingeschlafen sind, wollen wir einander aufwecken“ (§200) (6),

antwortete Jamuqa:

    „Zur Zeit, als ich Gefährte sein sollte,
    bin ich dir keiner gewesen.
    Jetzt hast du, Freund,
    die Völker in der Runde
    gebändigt
    und die Außenländer
    zusammengefaßt.
    Der Himmel hat dir
    den Kaiserthron gezeigt.
    Wo jetzt der Erdkreis
    dir bereitet ist,
    was für ein Gewinn
    könnte ich als Gefährte da noch sein?“ (§201) (7)

5 Ebenda, S. 28.
6 Ebenda, S. 89.
7
Ebenda, S. 90.

Der namhafte sowjetische Wissenschaftler B. Ja. Vladimircov würdigte die künstlerische Leistung der „Geheimen Geschichte“ mit den Worten: „Wenn man behaupten kann, dass im Mittelalter kein Volk das Interesse der Historiker so stark auf sich gezogen hat wie die Mongolen, muss auch darauf hingewiesen werden, dass kein anderes Nomadenvolk ein literarisches Werk hinterlassen hat, das das wirkliche Leben so genau wiedergibt wie die ‚Geheime Geschichte’.“ (8) 
Es existieren noch zahlreiche andere Werke, die in derselben Traditionslinie liegen wie die „Geheime Geschichte“: Boγda baγatur bey-e-ber dayiluγsan teüke („Die persönlichen Feldzüge des heiligen Herrschers“), Quriyangγui altan tobči („Die kurze Goldene Chronik“, 1604-1627), Sira tuγuji („Die Gelbe Geschichte“, 1643-1662), Altan tobči („Die Goldene Chronik“, 1655) des Lubsangdanjan, Erdene-yin tobči („Die Juwelenchronik“, 1662) des Saγan sečen, Asaraγči neretü yin teüke („Die Geschichte eines Mannes mit Namen Asaraγči“, 1677) von Jamba, Bolor erike („Die Gebetskette aus Bergkristall“, 1774-1775) von Rasipunsoγ und andere. Der Differenzierungsprozess zwischen Historiographie und Belletristik war zu jener Zeit noch nicht abgeschlossen, so dass diese Geschichtswerke gleichzeitig Literaturdenkmäler sind. Man trifft in ihnen nicht selten auf Passagen, die künstlerisch gestaltet sind. In diesem Zusammenhang soll hier nur auf die zahlreich verwendeten Legenden hingewiesen werden.
In einer solchen durch die „Geheime Geschichte“ überlieferten Legende wird berichtet, wie Alan-gua, die Urmutter Činggis qaγans, ihre Söhne belehrt: „Während sie so dort wohnten, starb Dobun der Kluge. Nach seinem Tode gebar Alan die Schöne, ohne einen Mann zu haben, drei Söhne. Die waren genannt: Buchu chatagi, Buchatu Saldschi und Bodontschar der Dumme. Die vorher noch von Dobun dem Klugen gezeugten Söhne Belgunotai und Bugunotai aber sprachen miteinander hinter dem Rücken ihrer Mutter: ‚Unsere Mutter hat hier, ohne Hausgenossen- Brüder und ohne einen Mann zu haben, diese drei Söhne geboren. In der Jurte war allein der Mann von den Ma’alich baya’ut. Von dem mögen die drei Knaben wohl sein.’ Ihre Mutter hörte davon. Eines Tages im Herbst kochte sie ein vorjähriges Lamm, aus dem Wintermonat, ließ ihre fünf Söhne Belgunotai, Bugunotai, Buchu chatagi, Buchutu saldschi und Bodontschar den Dummen der Reihe nach (zum Mahle) Platz nehmen und gab ihnen je einen einzelnen Pfeil in die Hand mit den Worten: ‚Zerbrechet ihn!’ Sie brachen die einzelnen Pfeile ohne weiteres durch und warfen sie fort. Dann band sie fünf Pfeile zusammen und gab sie ihnen mit den Worten: ‚Zerbrechet diese!’ Die Fünf nahmen die fünf gebündelten Pfeile Mann für Mann, reihum, aber vermochten sie nicht zu zerbrechen. Darauf sprach ihre Mutter Alan die Schöne: „... Ihr meine fünf Söhne seid aus meinem einen Leibe geboren. Wenn ihr, wie eben die fünf Pfeile, jeder für sich allein bleibt, werdet ihr wie jene einzelnen Pfeile von jedem Beliebigen leicht zerbrochen werden. Wenn ihr aber wie jenes Bündel Pfeile  zusammen in Eintracht bleibt, was könnte euch dann so leicht von irgend jemand geschehen?“ (§ 17-22) (9)

8 B. Ja. Vladimircov: Obščestvennyj stroj mongolov. Moskau 1931, S. 6.)
9 Übersetzung nach E. Haenisch: a. a. O., S. 2-3.


Dieser Legende liegt der Gedanke zugrunde, dass die Menschen in Frieden miteinander leben sollen, und sie wurde deshalb von der „Geheimen Geschichte“ und auch später immer wieder aufgegriffen, um zu mahnen, das durch Činggis qaγan geschaffene Reich nicht wieder zerfallen zu lassen, sondern es zusammenzuhalten und zu stärken.
Eine analoge Legende, vor mehr als zweitausend Jahren in Griechenland aufgezeichnet, befindet sich unter den Fabeln des Äsop, der sie von einem Nomadenvolk aus dem Norden, aus dem Sagenschatz der Skythen, übernommen haben will. Dieselbe Legende fand Eingang in die Geschichte der von den Tabgači gegründeten We-Dynastie, wobei vermerkt wird, sie sei von den Tügükün (Aja), einem in Osttibet lebenden Stamm mongolischer Herkunft, übernommen worden. Dieses Phänomen lässt sich auf zweierlei Weise erklären: Einmal könnte das Sujet der Äsopschen Fabel Verbreitung unter allen Nomadenvölkern Asiens gefunden haben und schließlich über die Tügükün nach China gekommen sein. Diese Version wird von der traditionellen europäischen Literaturforschung bis heute als ein Axiom betrachtet. Wir schlagen als Antithese eine zweite Erklärung vor: Es wäre durchaus möglich, dass die griechische Legende sich, wie die meisten europäischen Wissenschaftler annehmen, über den ganzen asiatischen Kontinent verbreitet hat. Diese Möglichkeit bestreiten wir nicht. Deshalb aber muss diese Legende nicht unbedingt auch griechischen Ursprungs sein. Sie kann bei anderen Völkerschaften entstanden, in Griechenland aufgezeichnet und so in die Äsopschen Fabeln gelangt sein. Man bedenke, dass im Griechischen eindeutig darauf hingewiesen wird, dass es sich bei Äsop um die Adaption einer skythischen Legende handelt. (10)
Aufzeichnung und Entstehung eines literarischen Werkes sind nicht ein und dasselbe. Ich neige zu der Annahme, dass es wohl ein Grieche gewesen sein mag, der diese sehr früh bei den Skythen und zahlreichen anderen europäischen und asiatischen Völkern verbreitete Legende zum ersten Mal niederschrieb, dass sie sich aber gleichzeitig durch mündliche Überlieferung weiterverbreitet hat, bis sie im 7. Jahrhundert von den Tügükün aus den Weg in die Geschichte der We-Dynastie fand.
Wir können die seit dem 18. und 19. Jahrhundert unter den Orientalisten verbreitete Methode nicht voll und ganz akzeptieren, nach der die Sagen und Legenden der vielen europäischen und asiatischen Völker unbedingt mit den Literaturen einiger weniger Länder – nämlich Griechenlands, Roms, Indiens, Chinas und anderer alter Kulturzentren – in Verbindung gebracht werden. Bei der Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen den Literaturen der sesshaften Völker Griechenlands, Roms, Indiens und Chinas einerseits und den Literaturen der Nomadenvölker andererseits müssen auch die Einflüsse berücksichtigt werden, die von den letzteren

10 Vgl. I. S.Lisevič: Sjužet ėzopovoj basni na vostoke. In: Tipologija i vzaimosvjazi literatur drevnegomira, Moskau 1971, S. 280-310.


ausgingen und auf die Literaturen der sesshaften Völker wirkten. Es darf auch nicht übersehen werden, dass ähnliche sozial-ökonomische Bedingungen durchaus Ähnlichkeiten im Legendenschatz der Völker verursachen konnten. Jede einzelne Dichtung sollte für sich auf der Grundlage des konkreten Faktenmaterials untersucht werden. Ohne sichere Fakten die kulturellen Leistungen so vieler Völker auf einige wenige Kulturzentren zurückführen zu wollen, scheint uns nicht der richtige Weg. Denn ob groß oder klein – in Wirklichkeit haben alle Völker der Welt eine eigene, ganz spezifische Kultur geschaffen, haben alle ihre eigenen, ihre ganz spezifischen Leistungen in die Menschheitskultur eingebracht.
Eine andere bemerkenswerte Legende enthält das Altan tobči des Lubsangdanjan, ein Geschichtswerk aus dem 17. Jahrhundert: Mengedei sečen sprach zu Činggis qaγan: „In alter Zeit lebte eine Schlange mit tausend Köpfen und einem einzigen Schwanz. Da jeder der vielen Köpfe in eine andere Richtung zog, kam sie unter einen Wagen und wurde getötet. Es lebte auch eine Schlage mit tausend Schwänzen und einem einzigen Kopf. Die Schwänze folgten ihrem einzigen Kopf in ein Loch und kamen nicht unter den Wagen. Genauso wollen wir deine tausend Schwänze sein, dir unsere Kraft geben und dich stärken.“
Im Zusammenhang mit dieser Legende schrieb im 13. Jahrhundert der iranische Historiker Juvaini, Legenden dieser Art seien bei den Mongolen häufig. Sie sollten dazu dienen, die Einheit des unter den Fürsten des „Goldenen Stammes“ Činggis qaγans aufgeteilten Weltreichs zu festigen. Zur Zeit des Weltreichs und vor allem zur Zeit Mongke qaγans zeigten die Mongolen eine große Vorliebe für solche Legenden und machten sie zu ihren Leitsätzen. (11)
Auch im Altan tobči des Lubsangdanjan belehrt Činggis qaγan seine Söhne: „Haltet die vielen Völker zusammen! Ehe ihr ihre Körper sammelt, sammelt ihre Herzen! Wohin können ihre Körper gehen, wenn ihr ihre Herzen gesammelt habt?“ (12) Er ermahnt sie also, die gewaltsam unterworfenen Völker mit Güte zu regieren, um ihre Zuneigung zu gewinnen.
Die erwähnten Geschichtswerke enthalten noch zahlreiche andere Märchen und Legenden, so die Legende vom Sieg über die dreihundert Tayičiγud, die Legende von Arγasun qorči oder die Legende vom Waisenknaben. In letzterer wird erzählt, wie Činggis qaγan bei einem Festgelage mit seinen Fürsten das Für und Wider des Branntweintrinkens erörtert. Ein Waisenknabe tritt hinzu, erhält vom qaγan die Erlaubnis zu sprechen und erklärt mit weisen Worten und in wohlgesetzten Reimen das Geheimnis des Branntweins, den zu trinken ein Genuss nur dann sei, wenn man man es in Maßen tue. Damit erweist sich der Knabe als den meisten der anwesenden Fürsten geistig überlegen und wird für seine Klugheit von Činggis qaγan gelobt. Der arme Waisenknabe, der Fürsten und berühmte Recken an geistigen und körperlichen Kräften überbietet, ist für die Volksdichtung

11 Vgl. A. Juvaini: The History of the World-Conqueror. Translated by I. A. Boyle. Manchester 1958, S. 42.
12 Vgl. Lubsangdanjan: Altan tobči. Ulaanbaatar 1937, S. 46.

typisch, und im vorliegenden Falle könnte man deshalb vielleicht vom Einfluss einer demokratischen Tendenz sprechen.
1931 wurde in einem Grab an der Wolga ein in uigurischer Schrift auf Birkenrinde geschriebenes Manuskript gefunden, das ursprünglich etwa zwanzig Seiten umfasst hat. Der größte Teil war infolge der Verwesung stark zerfallen, doch ist es Wissenschaftlern gelungen, wenigstens einige Seiten zu rekonstruieren. Es handelt sich um ein mongolisches Schriftdenkmal aus dem 13. Jahrhundert, ein Gedicht oder
ein Lied, das die Sehnsucht eines jungen Mannes, der als Soldat in die Fremde ziehen musste, nach seiner daheim gebliebenen Mutter zum Ausdruck bringt. Dieser Soldat Činggis qaγans spürte nicht das geringste Verlangen, zu kämpfen und fremde Länder zu erobern; er sang nur von seiner Sehnsucht nach der Heimat und der geliebten Mutter. Dieses Gedicht ist wohl das einzige uns aus dem 13. Jahrhundert überlieferte Beispiel weltlicher Empfindungslyrik.
Ebenfalls aus dem 13./14. Jahrhundert stammt die Geschichte von den beiden Grauschimmeln, ein kleines aber vielbeachtetes Dichtwerk: Činggis qaγan besaß zwei Grauschimmel, mit denen er auf die Jagd zog und reiche Beute machte. Er vergaß jedoch, seinen beiden Reittieren Dank und Anerkennung zu sagen. Gekränkt liefen die beiden fort in ein fremdes Land. Ihr Herr folgte ihnen, konnte sie jedoch nicht einholen und kehrte traurig um. In der Fremde verbrachten die beiden Grauen ein paar glückliche Jahre. Dann aber fühlte der Ältere Sehnsucht nach der Heimat und nach ihrem Herrn, dem qaγan. Er magerte zusehends ab, während dem Jüngeren vor Wohlbeleibtheit das Fell zu platzen drohte. Doch empfand das jüngere Pferd Mitleid mit dem Gefährten und kehrte mit ihm in die Heimat zurück.
Manche Wissenschaftler sind bis heute der Meinung, der mongolische Schamanismus kenne keine schriftlich fixierte Literatur. Diese Annahme ist falsch. Es gab sowohl eine mündliche als auch eine schriftliche mongolische Schamanendichtung. Letztere wird vor allem durch gereimte Beschwörungen von Bergen und oboγa (13), des Himmels und der Geister repräsentiert. Bekannt sind das „Rauchopfer für den Ata tngri“, das „Rauchopfer für den Weißen Alten“, die „Anbetung des Feuers“, das „Rauchopfer für das Windpferd“, das „Rauchopfer für die Sattelriemen“, die „Beschwörung des Maniqab tngri“, die „Sūtra der Sieben Alten“, die „Beschwörung der Fünf Menschen-Sterne“, die Anbetung der Berge und oboγa“, die „Anrufung der Seele“, die „Anbetung des Banners des Činggis“, der „Segen für den ersten Kumys“ und andere. Diese Dichtungen beruhen auf einer uralten Tradition und sind ihrem Wesen nach rein mongolisch. Dies mögen zwei Strophen aus der „Anbetung des Feuers“ veranschaulichen:

    „Seit der Zeit, als der Qangγai-qan noch ein Hügel war,
    Seit der Zeit, als die Meeres-Qatan noch ein Pfützchen war,
    Seit der Zeit, als der scheckige Steinbock noch ein Kitzchen war,   
    Seit der Zeit, als der Habichtvogel noch ein Nestling war,
    Seit der Zeit, als der Ulmenbaum noch ein Reislein war,
    Tropfe ich Butterschmalz für dich, Mutter,
    Die uns Wohlergehen schenkt.
    Für den Hengst mit der üppigen Mähne,
    Für die Stute mit dem prallen Euter rufe ich Glück herbei!
    Für das Fohlen, das davongelaufene,
    Für das Kalb, das ausgebrochene,
    Für das Lamm, das verlaufene,
    Für das Zicklein, das verirrte, rufe ich Glück herbei!

    Qurai, qurai, qurai!“

13 oboγa (nach der kyrillischen Schreibweise „owoo“): Steinsetzungen, mit denen lokale Gottheiten geehrt werden.

Eine in ihrer Form der Schamanendichtung nahestehende literarische Gattung, die im Brauchtum des mongolischen Volkes wurzelt, sind die irügel (Segenssprüche). Sie werden bei allen wichtigen Ereignissen des täglichen Lebens vorgetragen: zur Begrüßung und zur Verabschiedung von Gästen, beim Darbieten von Branntwein und Kumys, zu Beginn der Stutenmelksaison, bei der Filzbereitung, beim Anbeten der Berge und oboγa bei Hochzeiten, bei der Namensweihe der Kinder, bei den jahreszeitlichen Festen oder wenn eine neue Jurte aufgestellt wird. Es gibt umfangreiche Sammlungen solcher Sprüche. Die professionellen irügel-Sprecher kennen Dutzende davon auswendig. Doch sie tragen sie nicht nur vor, sondern nehmen laufend Ergänzungen und Ausschmückungen vor und dichten zuweilen auch neue. Einer der kürzesten irügel heißt:

    „Steige auf wie die Sonne,
    Prange wie Blattwerk!“

Im Mongolischen sind es nur sechs Wörter. Die umfangreichsten irügel sind Dichtungenn mit mehreren Hundert Verszeilen.
Im 14. Jahrhundert, zur Zeit des mongolischen Weltreichs, verfasste Čos ki odser (tib. Chos kyi ’od zer) Hofgeistlicher des qaγan, in mongolischer und tibetischer Sprache mehrere literarische Werke, von denen einige erhalten geblieben sind. Sein Gedicht „Lob des Mahākāli“, in mongolischer Sprache geschrieben, wurde in den Höhlen von Tunhuang gefunden und wird heute in Berlin aufbewahrt. Sein in Tibetisch verfasstes biographisches Werk „Die zwölf Werke Buddhas“ wurde von Sirabsengge ins Mongolische übersetzt. Čos ki odser selbst übersetzte u. a. die philosophische Lehrschrift „Bodhicaryāvatāra“ des indischen Gelehrten Čantideva und ließ sie, mit einem Kommentar versehen, drucken. Leider konnten davon kaum noch zehn Seiten aufgefunden werden. Čos ki odsers Grammatik der mongolischen Sprache ist ein bedeutendes Denkmal mongolischer Schriftkultur.
Ein umfangreiches und bei den Mongolen weit verbreitetes Schriftwerk ist die Geser (tib. Ge sar)-Sage. Bei ihrer Untersuchung gibt es noch viele ungeklärte Fragen. Haben wir es hier mit einem Werk der Volksdichtung zu tun oder mit Belletristik? Gehört die Geser-Sage zur Übersetzungsliteratur oder wurde sie von vornherein in mongolischer Sprache niedergeschrieben? Alle diese Fragen könnte man bejahen: Es wurden nicht nur zahlreiche Handschriften und zuweilen auch Blockdrucke der Geser-Sage gefunden, sondern sie fand auch in mündlichen Versionen überall bei den Mongolen und besonders bei den Burjaten starke Verbreitung. Es gibt eine im 17./18. Jahrhundert aus dem Tibetischen übersetzte mongolische Geser-Sage und daneben zahlreiche Versionen, die auf mongolischsprachigen Ursprung schließen lassen. Das heißt, es sind von einem einzigen Werk auf Grund der starken Resonanz, die es unter der Bevölkerung fand, viele Versionen entstanden, die in Inhalt und Form stark von einander abweichen.
Im 11. Jahrhundert entstand in Nordtibet bzw. in der Gegend von Amdo und dem Kokonor ein kleiner Staat, der zahlreiche Stämme tibetischer, uigurischer und mongolischer Herkunft vereinte. Chinesischen Quellen zufolge hieß der erste Herrscher dieses Reichs Sydotu, sein Nachfolger Gosylo. Dieser Sydotu war unseres Erachtens niemand anders als Gesers Oheim Totun (Čoton; tib. Khro thung), Gosylo aber war Geser selbst. Eine in kunstvollen Reimen verfasste Biographie jenes Gosylo-Geser hinterließ in tibetischer Sprache der Dichter Čoyibeb (tib. Chos ’bebs). Diese Dichtung fand allem Anschein nach seit dem 15./16. Jahrhundert in mündlicher und in schriftlicher Form Verbreitung unter den Mongolen. 1716 wurden die ersten sieben Kapitel einer mongolischen Geser-Version im Blockdruckverfahren publiziert.
Zum Inhalt: Als auf der Erde unruhige Zeiten angebrochen waren, als die Starken die Schwachen peinigten und die Hohen die Niederen unterdrückten, sandte Qormusta, der Herrscher des Himmels, seinen jüngsten Sohn herab, damit dieser Ungerechtigkeit und Zwietracht beheben sollte. Er wurde im Lande Lin geboren, wurde Geser qaγan, der Čoton und dessen Fürsten besiegte und sein eigenes Reich gründete. Alsdann kämpfte Geser gegen das Ungeheuer Mangus, das von Norden her eingefallen war, besiegte es und zog in dessen Land. Dort nahm er die Fürstin Tümenjirγalang zur Frau und blieb drei Jahre bei ihr. Währenddessen waren die drei Sirayiγool-Könige in Gesers Land eingefallen, um die Königin Rogmo-γoa (tib. ’Brug mo) zu rauben. Gesers 33 Recken, die den Kampf gegen die Eindringlinge aufgenommen hatten, waren gefallen, Gesers Oheim auf die Seite der Sirayigool- Könige übergelaufen, die nun über das Land Lin herrschten. Der Sirayiγool-König Čaγan gertü gab Rogmo-γoa seinem Sohn Altangerel zur Frau.
Geser qaγan kehrte nach drei Jahren in sein Land zurück, besiegte die drei Sirayigool- Könige, eroberte Rogmo-γoa zurück und verurteilte Čoton vor den Augen seines Volkes. Seine 33 Recken aber rief er mit ein paar Tropfen vom Wasser des Lebens ins Leben zurück.
Als Gesers Bruder Času siker (tib. RGua tso zhal dkar) den Fürsten Čoton töten wollte, gebot ihm Geser Einhalt und sprach: „Töte ihn nicht! Mag er am Leben bleiben! So werden wir, solange er lebt, immer daran denken, dass wir Feinde haben, die uns Böses wollen.“
Die Geser-Sage existiert nicht nur in tibetischer, mongolischer, burjatischer und kalmückischer Sprache, sondern auch in den Sprachen einiger Turkvölker. Mit Recht bezeichnet der Franzose Silvain Levy die Geser-Sage als die Iliade Zentralasiens. (14)
Vielfach wird die Meinung vertreten, dass Werke alter indischer Dichtkunst wie das Pañcatantra, das Ramayana, die Geschichte von Vicramacarita, das Märchen von den 32 hölzernen Männern, das Vetala (mong. Siditü kegür-ün uliger: „Märchen vom Zaubertoten“), das Damamuka (mong. Uliger-ün dalai: „Meer der Märchen“) (15) oder die Buddha-Legenden (mong. Čadig) über das Tibetische Eingang in die mongolische Literatur gefunden haben. Das entspricht im großen und ganzen auch den Tatsachen, manchmal aber nur teilweise. Fest steht z.B., dass das Damamuka und die Čadig als buddhistische Dichtungen aus dem Sanskrit ins Tibetische und aus dem Tibetischen ins Mongolische übersetzt und vervielfältigt worden sind und dass sie sich in diesem Prozess kaum verändert haben. Bei den weltlichen Märchen und Legenden jedoch weichen die tibetisch- und die mongolischsprachigen Versionen oft stark vom Original ab. Darüber hinaus haben tibetische und mongolische Dichter dem indischen Werk oftmals ganze Abschnitte eigenschöpferisch hinzugefügt. In manchen Fällen erinnern nur noch der Titel und die äußere Form an das indische Original, während es sich dem Inhalt nach um ein völlig anderes Werk handelt. Unter diesem Aspekt sollen die „Märchen vom Zaubertoten“ (Vetala) näher betrachtet werden.
Im Sanskrit gibt es zwei Versionen eines Buches mit dem Titel Vetalapañcavimśati. Beide wurden ins Russische, ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzt. Im
Tibetischen gibt es zwei Versionen der Vetala-Märchen (Ro dngos grub can), von denen die eine dreizehn, die andere zwölf Kapitel umfasst. Die in diesen beiden Büchern enthaltenen Märchen sind in einer Art und Weise miteinander verknüpft, die an die indischen Vetala-Märchen erinnert. Inhaltlich jedoch stimmen sie mit diesen keineswegs überein. Darum sollte man die tibetischen Vetala-Märchen nicht als Übersetzung eines indischen Originals betrachten, sondern als echt tibetische Literatur. Die beiden tibetischen Versionen werden im Bucoi (tib. Bu chos, mong. Köbegün nom), einem im 11. Jahrhundert in Tibet verfassten Werk, erwähnt, was zu der Annahme berechtigt, dass sie bereits im 11. Jahrhundert in tibetischer Sprache existiert haben müssen. Das 21 Kapitel umfassende tibetische Vetala liegt in mongolischer Übersetzung vor, die 13 Kapitel umfassende Version sogar in sechs oder sieben verschiedenen Übersetzungen. Die Häufgigkeit gerade dieser Version in tibetisch wie auch in mongolisch spricht dafür, dass es sich um ein vielgelesenes Buch gehandelt hat. Weiterhin ist zu erwähnen, dass die Mongolen den 13 Kapiteln des Vetala weitere 13 hinzufügten, so dass dieses Buch nunmehr 26 Kapitel umfasste.

14 Vgl. Sylvain Levi, Vorwort zu Alexandra David-Neel et le lama Jongden. La vie surhumaine de Guésar de Ling, Paris 1931, S. VII.
15 In deutscher Sprache erschienen unter dem Titel „Der Weise und der Tor“.

Später wurden noch einmal neun Kapitel hinzugefügt, so dass außer den mongolischen „Märchen vom Zaubertoten“ in 21 Kapiteln auch Versionen mit 13, 26 bzw. 35 Kapiteln Verbreitung fanden. Ein großer Teil dieser „Märchen vom Zaubertoten“, mit Sicherheit aber die Ergänzungen, dürfen mongolischen Autoren zugeschrieben werden.
Diese Ergänzungen enthalten zahlreiche Märchen und Geschichten, die weder in den indischen noch in den tibetischen Vetala-Märchen vorkommen bzw. diesen Literaturen überhaupt fremd sind. Das führte zu der Überzeugung, dass die traditionelle Hypothese, nach der das tibetische Vetala eine Übersetzung aus dem Indischen und die mongolischen Versionen in vollem Umfang Übersetzungen aus dem Tibetischen seien, unbegründet ist, und dem mongolischen „Zaubertoten“ wurde der ihm gebührende Platz in der Geschichte der mongolischen Literatur eingeräumt.
Aufgrund ähnlicher Hypothesen werden auch die „Beschreibung der Taten des Biγarmijid qaγan“ (mong. Biγarmijid qaγan-u namtar) – ein abenteuerlicher Liebesroman – und die Trilogie „Märchen von den 32 hölzernen Männern“, die „Geschichte von Arji borji qaγan“ (mong. Arji borji qaγan-u tuγuji) und die „Taten des Kesene qaγan“ (mong. Kesene qaγan-u namtar) auf indischen Ursprung zurückgeführt, obwohl in Indien bis heute kein äquivalentes Werk gefunden wurde. Ähnliche Werke sind auch in der tibetischen Literatur unbekannt, bzw. die existierenden sind erst aus dem Mongolischen übersetzt worden.
In diesen Dichtungen trifft man häufig auf indische Namen: Arji borji (Raja booja), Biγarmijid (Vicramaditi oder Vicramacarita), Kesene (Krišna), Maqasamadi (Mahasammata), Urvaši dakini, die Stadt Vaysili u.a. Ebenso erinnern manche Begebenheiten und die Art der Verknüpfung der einzelnen Märchen an indische Literatur. Genauere Nachforschungen ergaben, dass von diesen drei Werken einzig die „Taten des Kesene qaγan“ im 17. oder 18. Jahrhundert zweimal aus einer indischen Sprache ins Mongolische übersetzt wurden und in dieser Form allgemeine Verbreitung gefunden haben. Bei den „Taten des Biγarmijid qaγan“ und der „Geschichte von Arji borji qaγan“ sind jedoch keine Fakten bekannt, die als Beweis dafür dienen könnten, dass es sich um Übersetzungen handelt. Hingegen sind diese Dichtungen reich an Schilderungen des mongolischen Milieus, so dass es scheint, als
wären sie in der Mongolei und von mongolischen Autoren geschaffen. In der „Geschichte von Arji borji qaγan“ bzw. im Kapitel XIII der mongolischen „Märchen von den 32 hölzernen Männern“ wird z.B. erzählt, wie zwei Knaben mit dem tebeg (16) spielen und dieser durch das Rauchloch einer Jurte der Fürstin auf den Kopf fällt. In dem Kapitel, in dem Biγarmijid qaγan die Naran dakini zur Gemahlin nimmt, heißt es, dass er „Edelsteine darbrachte und sie aufhäufte, so hoch wie eine mongolische Jurte“. Außerdem wird im Kapitel XIX der „Taten des Biγarmijid qaγan“ mehrmals die tibetische Sūtra „Ma ņi bka ’bum“ aus dem 15. Jahrhunderterwähnt, und in Kapitel XXXII ist die Rede von dem Tibeter Jongqaba (tib. Tzong kha ba, 1357-1419).

16 tebeg: mongolisches Spielzeug aus einem beschwerten Fellstückchen oder Haarbüschel, in der Art eines Federballs, das mit den Füßen in die Luft geschlagen wird.

 Wenn es sich um Übersetzungen aus dem Indischen ins Mongolische handeln würde, gäbe es keinen Grund, das „Ma ni bka’ ’bum“ und Jongqaba zu erwähnen. Im gleichen Kapitel wird erzählt, wie Buddha Śākyamuni auf einem Schimmel und der Bodhisattva Maitreya auf einem Rappen durchs Land ziehen. Sie werden ganz wie mongolische Hirten dargestellt, die zu ihrem Vergnügen von Jurte zu Jurte reiten und reihum die Nachbarn besuchen. Kapitel XXVIII erzählt von einem Einsiedler in den Bergen, der den Boten des qaγan mit Kumys aus einem kleinen Ledersack bewirtet – ebenfalls ein typisches Bild aus dem mongolischen Landleben.

Wie der russische Gelehrte Veselovskij sehr richtig bemerkte, können die uns bekannten Versionen in Sanskrit und Hindi nicht unmittelbar der Ursprung des mongolischen „Arji borji“ gewesen sein.(17) Auch B. Laufer kam zu dem Schluss, dass die „Märchen von den 32 hölzernen Männern“ größtenteils von mongolischen Autoren stammen müssten.(18)
Ein vollständiges Pañcatantra liegt weder in tibetischer noch in mongolischer Sprache vor. Jedoch enthält der „Kommentar zu dem’Ein Tropfen von der Heilquelle’ genannten Lehrgedicht des Nagarjuna“ („Ein Tropfen von der Heilquelle“: mong. Rasiyan-u dusul; tib. sKye bo gso thig) mehr als zehn Geschichten, die auch im Pañcatantra vorkommen. Dieses Buch liegt in tibetischer Sprache in zwei Versionen und in mongolischer Sprache in vier Versionen vor.
Drei der mongolischsprachigen Versionen sind eindeutig Übersetzungen aus dem Tibetischen oder stützen sich zumindest auf tibetische Werke. Die Geschichten der vierten mongolischsprachigen Version aber unterscheiden sich von diesen durch eine höhere künstlerische Meisterschaft und durch eine bessere Motivierung der Handlung, gerade als hätte ein mongolischer Dichter eine künstlerische Bearbeitung vorgenommen.
Interessant ist auch das Schicksal der „Sage von der Himmelsfee Manuhari“, die über die Jātaka (mong. čadig) des Śākyamuni („Die Erlebnisse des Śākyamuni in seinen früheren Existenzen“) den Weg in die mongolische Literatur fand und sich hier in eine folkloristische Dichtung verwandelt hat.
Märchen von der Schwanenprinzessin, die, vom Himmel auf die Erde herabgekommen, beim Baden im See von einem jungen Jäger überrascht wird, der sie dann zur Frau nimmt, sind in aller Welt bekannt.(19) Eine solche Legende, Sudhana avadana oder „Jataka des Manibadra“, entstand vor etwa zweitausend Jahren ebenfalls in Indien als eine Darstellung von Erlebnissen des Śākyamuni in einer seiner früheren Existenzen. In Indien herrschte zu jener Zeit bereits das Kastensystem. Die Klassengesellschaft hatte sich stabilisiert. Deshalb wurde die ursprüngliche Legende, die auf dem Totemismus der Urgemeinschaft beruhte, dem Kastensystem und der Klassengesellschaft angepasst: Als der junge Jäger die Himmelsfee Manuhari mit seinem Lasso eingefangen hatte, brachte er sie dem König Manibadra, und der belohnte ihn dafür. Nicht aus Liebe hatte der junge Jäger die Manuhari gefangen, sondern aus Besitzsucht, um sie zu verkaufen. Das machte ihn zu einer negativen Gestalt.

17 Vgl. A. N. Veselovskij: Sobranie sočinenij. Moskau-Leningrad 1908-1936, Bd. VIII, S. 46.
18 Vgl. B. Laufer: Očerki mongol’skoj literatury, Leningrad 1927, S. 63.
19 Vgl. Stiph Thompson: Motiv-Index of Folk-Literature, Copenhagen, 1955-1958, Bd. I-VI, Nr. 465.

König Manibadra nahm die Manuhari zur Frau und lebte glücklich mit ihr, bis Feinde das Land überfielen und Manibadra gegen sie in den Kampf ziehen musste. Aus Eifersucht planten währenddessen die anderen Frauen des Königs, Manuhari zu töten. Deshalb holte Manuhari von ihrer Schwiegermutter ihr Schwanenkleid und flog damit in den Himmel. Im folgenden wird beschrieben, wie Manibadra nach seinem Sieg über die Feinde zurückkehrte und welche Schwierigkeiten er auf sich nehmen musste, um seine Frau wiederzugewinnen. 
Diese Jataka wurde aus dem Sanskrit ins Tibetische übertragen, in die Sammlungen Kanjur und Danjur aufgenommen und schließlich ins Mongolische übersetzt. Aus dem Kanjur und dem Danjur führte der Weg dieser künstlerisch anspruchsvollen Erzählung zu einer erneuten Ausgabe als selbstständiges kleines Buch. Sie fand unter der Bevölkerung starke Verbreitung und verwandelte sich in Volksdichtung. Solange diese Jataka ein Werk der Belletristik darstellte, hielt sie sich stark an das Original und veränderte sich kaum. Stärkere Veränderungen erfuhr sie erst nach ihrer Umwandlung in Volksdichtung. Manchen Märchenerzählern gefiel es z.B. nicht, dass der junge Jäger Junggeselle blieb. Sie erfanden eine Nixe und ließen diese seine Frau werden. Zuweilen verschmolz der junge Jäger auch mit Manibadra zu ein und derselben Gestalt. Und zuweilen wird sogar geschildert, wie der junge Jäger den grausamen König im Kampf besiegt, Manuhari für sich gewinnt und schließlich selbst den Thron besteigt. Diese Erzählung bietet außerordentlich interessanten Stoff für eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Belletristik und Volksdichtung, für die Untersuchung von Assimilationsprozessen bei Übersetzungsliteratur und andere Phänomene.
Zu jener Zeit gab es in der Mongolei zwar eine Tradition der didaktischen Spruchdichtung und der Historiographie, kaum aber der Prosadichtung, der Erzählung und des Romans. Deshalb übte sich, wer schriftstellerisches Talent verspürte, zunächst an Übersetzungen und indem er an seiner Übersetzung mehr oder weniger auffällige Veränderungen vornahm. Das ist der Grund dafür, dass wir der Übersetzungsliteratur und der wie Übersetzungsliteratur erscheinenden Literatur so große Aufmerksamkeit widmen.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Mongolen schon seit vielen Jahrhunderten umfangreiche Mittel und Kräfte für die Übersetzung fremdsprachiger Literatur ins Mongolische aufgebracht haben. In den Höhlen von Tunhuang wurden in einer aus dem 14. Jahrhundert stammenden mongolischen Übersetzung Teile eines Romans gefunden, der die Reise Alexanders von Macedonien ins nördliche Land der Finsternis beschreibt. Kürzlich erst wurden mehrere Kurzfassungen des berühmten indischen „Ramayana“ veröffentlicht,(20) von denen in mongolischer Sprache vier und in tibetischer Sprache drei aufgefunden wurden. Das spricht dafür, dass die Mongolen bereits vor vielen Jahrhunderten eine beträchtliche Anzahl von klassischen Werken der Weltliteratur kannten und lasen.

20 Vgl. C. Damdinsüren: Ramajana v Mongolii. Moskau 1979.

Relativ zahlreich sind die in tibetischer wie auch in mongolischer Sprache vorliegenden Höllenfahrtsgeschichten, die ein besonderes Genre der tibeto-mongolischen Literatur darstellen. Die beiden berühmtesten sind die „Geschichte der Čoyijid dagini“ (Čoyijid dagini-yin tuγuji) und die „Sūtra von Molon toyin“ (Molon toyin-u sudur; sanskr. Maudgalyayana sūtra).
Čoyijid dagini war vor der ihr zugemessenen Zeit aus dem Leben geschieden. Nachdem ihre Seele in die Hölle gewandert und dort Augenzeuge des Gerichts Erlig qaγans, des Höllenfürsten, geworden war, kehrte sie auf die Erde und in ihre sterbliche Hülle zurück, um zu berichten und aufschreiben zu lassen, was sie in der Hölle gesehen und erlebt hatte. Das Gericht des Erlig qaγan dient der Illustration der buddhistischen Lehre, dass diejenigen Menschen, die ein tugendhaftes Leben geführt haben, eine glückliche Wiedergeburt erfahren, während sündige Menschen in ihrem späteren Leben eine minderwertige Existenz erlangen und leiden müssen. Weder der Autor noch die genaue Entstehungszeit dieser Erzählung sind bekannt, wohl aber, dass sie 1534 in tibetischer Sprache als Blockdruck herausgegeben wurde. Von diesem Blockdruck gibt es mehrere mongolische Übersetzungen, von denen einige Änderungen und Ergänzungen enthalten. Auffällig ist dabei u.a. die Änderung der Bezeichnung „sündiger Gelung“ (Mönch) in sündiger Gesgüi“ (Aufseher bei Gebetsveranstaltungen). Indem also ein höherer Lamarang angesprochen wurde, bekam die Erzählung so etwas wie eine sozialkritische Tendenz. Ebenso wurden Episoden eingefügt, in denen Erlig qaγan hohe Lamas und Fürsten für ihre Sünden hart bestraft.
Die „Sūtra von Molon toyin“ wurde ursprünglich in Indien in Sanskrit verfasst. Sie berichtet, wie der Mönch Molon toyin die von seiner Mutter empfangene Liebe dadurch vergilt, dass er sie, als sie ihrer Sünden wegen in die Hölle geraten war,
von dort errettet und ihr zu einer Wiedergeburt im Himmel verhilft. Diese Erzählung wurde bereits im 3. Jahrhundert ins Chinesische übersetzt. Dort fand sie rasche Verbreitung, da die Idee von der Vergeltung der Mutterliebe auch der konfuzianischen Lehre entspricht. Molon toyin genoss in China große Autorität. Ins Tibetische übersetzt, fand die gleiche Erzählung in Tibet keine so starke Resonanz und wurde auch nicht in die Sammlungen Kanjur und Danjur aufgenommen. Dennoch gibt es in mongolischer Sprache vier verschiedene Übersetzungen, ja selbst einen ganz und gar mongolisierten, wenn nicht sogar in mongolischer Sprache vefassten „Molon toyin“. Die Bedeutung dieses Buches beruht nicht zuletzt auf der Vielzahl prächtiger Illustrationen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass auch die „Sūtra von Molon toyin“ zur Entstehung einer ganzen Reihe von Erzählungen und Legenden führte, die mündlich weitergetragen wurden.
Die alte mongolische Literatur hat, wie erwähnt, nur wenige eigene Prosawerke hervorgebracht. Eins davon ist die 1662 entstandene „Geschichte vom Endegürel qaγan“ (Endegürel qaγan-u tuγuji), die auf einem uralten Motiv der Volksdichtung, dem Konflikt zwischen Waisenkind und Stiefmutter, aufbaut.
Erzählungen, in deren Mittelpunkt eine Frau steht, kommen in der alten mongolischen
Literatur öfter vor. Zwei davon sind die „Geschichte von der Weißen Tara-Mutter“ (Čaγan dara eke-yin tuγuji) und die „Geschichte von Naran-u gerel“ (Naran-u gerel-ün tuγuji). Entstehungszeit und Autoren dieser beiden Erzählungen sind unbekannt. Vermutlich stammen sie aus dem 16./17. Jahrhundert. Eine Druckausgabe liegt von keiner der beiden vor, doch waren beide als Handschriften weit verbreitet. Die „Geschichte von der Weißen Tara-Mutter“ ist auch unter anderen Titeln, z.B. als „Geschichte von der Frau Baγmai“ (Baγmai qatun-u tuγuji), bekannt. Die eigentliche, ungeschminkte Fabel berichtet von einer jungen Nonne, die im Kloster Dungjonkarbo (tib. Dung skyon dkar po) einen Sohn zur Welt brachte. Um den guten Ruf des Klosters zu wahren, nahmen die anderen Nonnen der Mutter das Kind fort und übergaben es heimlich einem Fremden zur Adoption. Nach jahrelangem Suchen fand die Mutter endlich ihr Kind wieder und blieb bei ihm. Diese schlichte, lebensnahe Fabel wird jedoch in phantastischer Weise aufgebauscht. So ist es z. B. Buddha höchstpersönlich, der das Kind entführt. Absichtlich lässt er die Mutter von einer Stätte des Leids zur anderen irren, damit sie die leidenden Wesen von ihren Qualen erlösen könne.
Im Mittelpunkt der „Geschichte von Naran-u gerel“ stehen die Erlebnisse eines einfachen jungen Paares. Doch auch hier werden so ungewöhnliche Ereignisse geschildert, dass man nicht mehr von „typischen“ Gestalten sprechen kann: Der Mann studiert die Wissenschaften und wird Beamter des qaγan, während die Frau die Kriegskunst erlernt, General wird und große Verdienste erwirbt, indem sie die Feinde schlägt, die das Land überfallen haben.
Diese beiden Erzählungen sind insofern interessant, als sie Kraft und Kühnheit der Frau preisen und Frauen als den Männern überlegen darstellen. Früher war es üblich, dass Frauen bei Weihrauch und brennenden Butterlämpchen zu einer Art Andacht zusammenkamen und sich diese Geschichten von einem Schriftkundigen vorlesen ließen, obwohl sie im Grunde kaum buddhistisches Gedankengut enthalten.
Im 15. Jahrhundert, als es darum ging, die auseinanderfallenden mongolischen Völkerschaften wieder zu einem einheitlichen Staat zusammenzuschließen, lebte die Fürstin Manduqai (Mandchai), eine heldenhafte Frau von großem politischem Einfluss, deren persönliches Schicksal die Mongolen noch heute bewegt. Bevor sie die Regentschaft übernahm, leistete sie vor dem Palast des Groß-qaγan einen Schwur, der in alliterierenden Versen überliefert ist. Diese bemerkenswerte Dichtung soll nicht unerwähnt bleiben, wenn hier von den Heldinnen der mongolischen Literatur die Rede ist. Seit dem 16. Jahrhundert erfuhr die Gelbe Religion oder der Lamaismus als tibetisch- mongolische Richtung des Buddhismus unter den Mongolen eine starke Verbreitung. Allerorts wurden Klöster gebaut, in denen eine bedeutende Anzahl von Lamas lebte. Relativ viele Klöster nahmen den Charakter theologischer Hochschulen an. Hier wurden wissenschaftliche Forschungen auf den Gebieten der tibetischen Sprache und des Sanskrit, der Philosophie, Medizin, Astrologie usw. betrieben.
Wenn anfangs noch umfangreiche Übersetzungen tibetischsprachiger Sutren angefertigt wurden, benutzten die Klosterwissenschaftler später zum größten Teil die tibetischen Originale für ihre Studien. Das Tibetische wurde in der Mongolei zur Sprache der Wissenschaft und – teilweise – zur Sprache der Literatur. Manche Autoren verfassten nun ihre literarischen Arbeiten in Tibetisch, manche bedienten sich
beider Sprachen: des Tibetischen und des Mongolischen. Mehr als zweihundert solcher Autoren sammelten ihre Werke und ließen sie als so genannte „Sümbüm“ (Gesammelte Werke; tib. gSungs ’bum) drucken. In den „Sümbüm“ der Klostergelehrten überwogen verständlicherweise religiöse Traktate zu den Ordensregeln, Kommentare zu Werken der buddhistischen Philosophie und ähnliches Genres. Aber sie enthalten auch eine ganze Anzahl religiöser und weltlicher Moralsprüche, theoretische Abhandlungen über die Dichtkunst, meisterhaft erzählte Heiligenviten, Historien und Legenden, Literaturregister und literaturkritische Abhandlungen. Deshalb wird die tibetischsprachige Literatur mongolischer Autoren als ein besonderes Kapitel in der Geschichte der mongolischen Literatur betrachtet. Etwa seit dem 18. Jahrhundert zeichnen sich in der tibetischsprachigen mongolischen Literatur drei progressive Strömungen ab, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts zusehends erstarkten. Die erste zeichnete sich durch ein kritisches Herangehen an religiöse Dogmen aus, die zweite durch Kritik an der Obrigkeit und die dritte durch ein wachsendes Interesse für säkulare Dichtung.
Ein bedeutender Vertreter der ersteren war der Sumba qambo Yisibaljor (tib.: Sum pa mkhan po Ye shes spal ’byor, 1704 - 1788) vom Köke naγur (Kukunor). Seine „Geschichte der Verbreitung der Religion in Indien, Tibet und der Mongolei“ sowie seine Autobiographie und andere Werke enthalten nicht wenige literarische Einlagen und kritische Elemente. Von seinen zahlreichen Gedichten sollen hier nur einige Verszeilen übersetzt werden:

    „Anders ist das Tun des Weisen,
    anders das des Toren wieder.
    Auf dem See lässt sich die Wildgans,
    auf dem Aas der Geier nieder.

    Wissen ist es, was der Kluge schätzt,
    eitler Glanz, was einen Hohlkopf blendet.
    Himmelswasser ist’s, wonach der Kuckuck sucht,
    der Suhle Schlamm, wonach das Schwein sich wendet.
    Den Klugen kann kein Unheil je erschrecken,
    den Tölpel sucht auf Schritt und Tritt es heim.
    Den Berg beschmutzt kein Staub, den schneebedeckten,
    doch schwarze Kohle wäscht kein Wasser rein.“(21)

Ein bedeutender Vertreter der weltlich orientierten Literatur war Lubsangčultim (1740 – 1810), bekannt als Čaqar gebsi. Er verfasste seine Werke sowohl in mongolischer als auch in tibetischer Sprache. Sein „Kommentar zum Subhāsidaratnanidhi, genannt ‚Schlüssel aus Wunschedelstein’“ (Subhasidi-yin tayilburi čindamani- yin tülkigür) enthält fast fünfzig Volksmärchen und Geschichten, und sein „Kommentar zu ‚Ein Tropfen vom Heilquell, der die Araten speist’“ (Arad-i tejigeküi rasiyan-u dusul neretü šastir-un tayilburi čindamani-yin čimeg) enthält mehr als zehn Erzählungen aus dem indischen Pañcatantra. Darüber hinaus gibt es eine ganze Anzahl hübscher Geschichten, die von ihm persönlich stammen, wie z. B. die „Legende von der Dejid“ oder die „Erzählung von den sieben jungen Mädchen“.
Weltliche Dichtungen entstammen auch der Feder des Agwangdampil (tib. Ngag dbang dam phel, 1700 – 1780) und des Nomt-un Rinčin (1821 – 1907), deren Kommentare zu dem „Tropfen vom Heilquell“ ebenfalls Geschichten aus dem Pañcatantra enthalten.
Die Anzahl der mongolischen Schriftsteller, die ihrer Gesellschaft gegenüber eine kritische Haltung einnahmen, wuchs im 19. Jahrhundert erheblich. Unter ihnen ist vor allem der als „Noyan qutugtu“ berühmte Rabjai (tib. Rab rgyas, 1803 – 1856) zu erwähnen. Außerordentliche Begabung und Fleiß ebneten dem Sohn einer armen Familie den Weg zu einer höheren Bildung und ließen ihn bis in den Rang eines qutugtu aufsteigen. Der Gesellschaft gegenüber verhielt sich Rabjai kritisch und bekannte dies mit den Worten „Meine aufrichtigen Gefühle vertragen sich nicht mit der Welt.“ Rabjais Verdienst ist es, mit zahlreichen lyrischen Gedichten die mongolische Literatur um ein neues Genre bereichert und sie dadurch in ihrer Entwicklung einen Schritt vorwärts gebracht zu haben. Viele seiner Gedichte vertonte er selbst und verhalf ihnen als Lied zu beachtlicher Popularität. Sein Lied „Vollkommenheit“ (Ülemji-yin cinar), das die Schönheit einer Frau mit allen fünf Sinnen nachempfinden lässt, wurde zu einem Volkslied, das noch heute gesungen wird:

    Vollkommenheit    

    Erste Strophe – was das Auge erblickt:
        Makellos in seinem Glanz,
        Wie ein blanker, lichter Spiegel,
        Leuchtet dein liebes Gesicht.   
        Leuchtet so schön und vollkommen,
        Wahrlich, es raubt mir die Sinne.
    Zweite Strophe – was das Ohr vernimmt:
        So wie des Kuckucks Rufen
        Raue Herzen berührt,
        Wärmt mich die Anmut deiner Worte,
        Wenn wir plaudernd beieinander sitzen,
        Oh, mein holdes Kind!
    Dritte Strophe – was die Nase verspürt:
        Wenn du nahst, dann weht es mir
        Taufrisch entgegen,
        Wie der Duft vom rotem Sandelbaum,
        Als wärst du geboren aus den gleichen Wurzeln.
        Dieser Duft lässt mir das Herz erbeben.
    Vierte Strophe – was die Zunge schmeckt:
        Mir ist, als wenn ich Honig esse,
        Der aus der Mitte einer Lotusblüte quillt.
        Ich kann an deiner fröhlichen Natur
        Mich nicht genug ergötzen.
        Nur größer wird die Lust.
    Fünfte Strophe – was der Leib empfindet:
        Was ich in diesem Menschenleben
        Ersehnte, habe ich erreicht.
        Lass uns nun gemeinsam glücklich sein,
        Lass uns im bodenlosen Meer des Glücks,
        Das den Göttern vorbehalten, schwimmen.(22)

Rabjai baute in der Gobi bei Qamar-un keyid ein Theater. Dort ließ er viele Jahre hindurch sein Singspiel „Der Mondkuckuck“ (Saran köküge) aufführen. Als Vorlage dazu hatte ihm eine tibetische Erzählung gedient, doch zahlreiche Lieder, Melodien und Gedichte stammen von ihm persönlich, wie er auch die Inszenierung selbst vornahm. Dass er auch Frauen auf der Bühne auftreten ließ, war ein Novum für das gesamte fernöstliche Theater.
Im 19. Jahrhundert wirkte Qayidub qambo (tib. mkhas grub mkhan po, 1779 – 1838), dessen literarische Arbeiten in fünf Bänden herausgegeben wurden. Sein Werk zeichnet sich durch einen hohen Anteil an Prosadichtung und eine deutliche sozialkritische Tendenz aus. Seine „Legende von einem alten Mann und einer alten
Frau, die einen Tiger erschreckten“ kommentiert ein mündlich tradiertes Volksmärchen.

21 Aus dem Mongolischen von R. Bauwe.
22 Aus dem Mongolischen von R. Bauwe

In „Der Schnitzer Anand und der Maler Anand“, „Ein Gespräch mit dem langhaarigen Ceringpel“, „Anbetung des Qormusta“, „Der genaue cadig“ und anderen Werken übt er Kritik an der moralischen Verkommenheit des „schwarzen“ und des „gelben“ Feudaladels. Dabei geht er jedoch nicht bis zur Forderung nach der Beseitigung des Feudalregimes. Worauf es ihm ankommt, ist lediglich eine moralische Besserung der herrschende Klasse, d. h. eine „Reinigung“ und Stärkung des Feudaladels und der Kirche.
Auch der Dichter Dangjinwangjil (tib. bsTan ’dzin dbang rgyal, 1854 – 1907) übte scharfe Kritik an der bestehenden Ordnung. Er richtete unter anderem folgende Zeilen an die Adresse der mongolischen Fürsten und hohen Lamas:

    „Wenn in der Äußeren Mongolei

            den guten Knecht und redlichen Sklaven
    Irrtümlich ihr als euren
            eignen Besitz betrachtet,
    Ihn peinigt und plündert,
            seiner Klagen nicht achtet –
    Wie sollte so schändliches Tun
            der Himmel nicht strafen?“(23)

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war eine literarische Form relativ verbreitet, die als üge („Worte“) bezeichnet wurde. Zu ihren bedeutendsten Vertretern gehörten Qaulci Sangdaγ (tib. gSang bdag), Yisisangbuu (tib. Ye shes bzang po) und der Wandermönch Gombodorji (mGon po rdo rje). Die üge sind ihrer Form nach Monologe, mit denen sich der Dichter im Namen irgendwelcher Tiere oder Erscheinungen der belebten oder unbelebten Natur an die Öffentlichkeit wendet. Da in der alten mongolischen Literatur zuvor lediglich Handlungen und Vorgänge dargestellt wurden, die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen hingegen kaum Widerspiegelung fand, spielten die üge literaturhistorisch eine progressive Rolle: Sie machten die Haltung des Dichters zu den Erscheinungen durchschaubar und verstärkten die lyrischen Tendenzen der mongolischen Literatur. Viele Mongolen kannten damals die „Worte des Hofhundes“ und die „Worte des Schnees, der im Frühling taut“ von Qaulci Sangdaγ, die „Worte des verwaisten Antilopenkitzes“ des Yisisangbuu oder die „Klagerede der alten Kuh“ auswendig – sie verstanden die darin enthaltenen Botschaften der Dichter.
Im 19. Jahrhundert machte auch ein Dichter von sich reden, den man den Verrückten Šaγdar (tib. Phyag rdor) nannte, weil er immer wieder mit drastischen Ausdrücken hohe Lamas und Adlige verspottete. Seine Dichtungen fanden handschriftlich weite Verbreitung. In letzter Zeit wurden sie gesammelt und gedruckt und somit der wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht.

23 Aus dem Mongolischen von R. Bauwe

Seit dem 18./19. Jahrhundert wurden auch chinesische Romane in größerer Zahl ins Mongolische übersetzt. Sie gelangten überwiegend als Handschriften in Umlauf. Nicht selten geschah es, dass mongolische Märchenerzähler sie auswendig lernten und zu den Klängen der Pferdegeige vortrugen. So entstand das so genannte „Bensen-Märchen“ (von chin. „Pen tzu“ – Heft, Buch). als ein neues Genre der Volksdichtung.
Die einzigen mongolischen Romane des 19. Jahrhunderts stammen von Injinasi (tib. Injna shes, 1837 – 1892). Neben seiner „Blauen Sutra“ (Köke sudur), einem historischen Roman über die Zeit Cinggis qaγans, und dem „Einstöckigen Pavillon“, einem Sittenroman, verfasste er Dutzende Gedichte und Erzählungen. Zwar wurden diese Werke nicht mehr zu seinen Lebzeiten gedruckt, sie fanden jedoch als Handschriften weite Verbreitung. Erst nach 1930 erschien einiges davon in gedruckten Ausgaben. Der dreibändige Roman „Die blaue Sutra“, an dem Injinasi dreißig Jahre seines Lebens gearbeitet hatte, gehört zu den größten Leistungen der mongolischen Literatur. Er umfasst 69 Kapitel, von denen 60 dem Leben Cinggis qaγans gewidmet sind. Dabei ist der von Injinasi entworfene Cinggis keineswegs mit seinem historischen Vorbild identisch, sondern ein Wunder-qaγan, eine der Phantasie des Autors entsprungene Traumfigur. Injinasi schuf diese Gestalt eines idealen Herrschers und gerechten Fürsten als Alternative zu den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit. Interessant ist, dass in dem Roman in keiner Weise auf die Eroberungszüge Cinggis qaγans eingegangen wird.
Der Sittenroman „Der einstöckige Pavillon“ prangert die Leibeigenschaftsverhältnisse an. Hierbei lässt der Autor eine ganze Reihe authentischer Persönlichkeiten seiner Zeit auftreten. Um sich vor Angriffen aus dieser Richtung zu schützen, sah er sich zu der Erklärung veranlasst, dass der Roman von einem anderen Autor stamme und er ihn aus dem Chinesischen übersetzt habe.
Ins 19. Jahrhundert fallen auch Leben und Schaffen des Gendün meyiren. Von ihm sind nur zwei kleine Geschichten überliefert, und es ist durchaus möglich, dass sein literarisches Werk nicht umfangreicher war. Dennoch ist Gendün meyiren von Interesse – schon deshalb, weil er sich mit Prosadichtung befasste, als die epische Gattung in der mongolischen Literatur noch spärlich vertreten war. In seinem „Märchen vom Hündchen, von der Katze und der Maus“ geht es im Grunde um das schwere Leben der mongolischen Landarmut. Die andere Geschichte, das „Märchen vom Kulan und dem Wolf“, war für Kinder gedacht. Beide Märchen verbreiteten sich als Handschriften, bis sie unter der Volksregierung auch in gedruckter Form die Öffentlichkeit erreichten.

Die Bedingungen des Nomadenlebens, die letzten Endes auch das Schreiben und Aufbewahren von Literatur erschwerten, die extremen klimatischen Verhältnisse, die äußeren und inneren kriegerischen Auseinandersetzungen der Cingisiden, die lange Jahre dauernde innere Krise während der Herrschaft der „kleinen“ qaγane und andere widrige Umstände bewirkten, dass die Bevölkerungszahl der Mongolen gering blieb. Deshalb erfüllt es uns mit Stolz, wenn wir feststellen, welch große Mengen von Büchern und Schriften diese wenigen Mongolen aus anderen Sprachen übersetzt und der mongolischen Bevölkerung zugänglich gemacht haben. Es wurden sogar ein 108-bändiges Kanjur und ein 226-bändiges Danjur als Blockdruck in mongolischer Sprache herausgegeben. Und obwohl es bis ins 20. Jahrhundert hinein kein ziviles Schulsystem gab, geriet das nationale Schrifttum nicht in Vergessenheit, sondern wurde über all die Jahrhunderte gepflegt. Es entstanden nicht wenige Werke der Belletristik und der Historiographie, die sorgfältig aufbewahrt wurden. Viele Klöster besaßen Bibliotheken mit umfangreichen Beständen in mongolischer und tibetischer Sprache.
Die Geschichte der mongolischen Literatur wird seit dem 19. Jahrhundert von ausländischen und seit nunmehr fast 60 Jahren auch von mongolischen Sprach- und Literaturwissenschaftlern untersucht. Dennoch ist es noch nicht gelungen, alle Forschungsergebnisse zu einer mongolischen Literaturgeschichte zusammenzuführen. Inzwischen haben mongolische Wissenschaftler diese Arbeit in Angriff genommen. Gegenwärtig werden eine Anthologie und ein dreibändiger Abriss der Geschichte der mongolischen Literatur für den Druck vorbereitet. Auf dieser Grundlage sind weiterführende detaillierte Untersuchungen und schließlich die Herausgabe einer Geschichte der alten mongolischen Literatur vorgesehen.


Berlin, im März 1979
(Aus dem Mongolischen übersetzt von Renate Bauwe)

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