Mongolische Literatur

Renate Bauwe

Die Legende von Ineg güren und seinem Herrscher Naran Mongol


Mythen und Legenden sind oftmals die einzige Brücke, die dorthin führt, wohin die sonstigen Geschichtsquellen nicht reichen und nicht reichen können: ins unmittelbare Empfinden, Wünschen, Wollen und Denken früherer Menschen. Und nach den Worten des Orientalisten Herbert Franke können sie "eine geschichtsbildende Kraft ersten Ranges sein"; denn: "Die Legenden, mögen sie noch so unglaubwürdig sein, sind auch Tatsachen: Tatsachen des Geistes".  In vorschriftlicher Zeit stellten Mythen und Legenden gewissermaßen eine einfache Form der Geschichtskunde dar, bei der sich in faszinierender Weise real Gesellschaftliches mit Phantastischem vermischte.
Auch die Mongolen haben, lange bevor sie ihre Geschichte aufzuschreiben begannen, in dieser Form ihr Stammes- und Geschichtswissen festgehalten: alles das, was ihnen als wichtig galt und nicht der Vergessenheit anheimfallen sollte. Das Vortragen der Legenden und Mythen, die die Identität der ethnischen Gemeinschaft begründeten, wie überhaupt das Bekanntmachen mit der Sippen- und Stammesgeschichte, galt bei den alten Mongolen als heilige Handlung und oblag vor allem den Schamanen.  Außenstehenden gegenüber, so darf man annehmen, wurde dieses Wissen als Stammes- oder Sippengeheimnis streng gehütet.
Auch später, als mongolische Chronisten die Geschichte ihres Herrscherhauses in schriftlicher Form festhielten, wurde diese Tradition beibehalten. Alte Geschichtsquellen belegen, daß die Chronik über die Genealogie und den Aufstieg Tschingis Chaans mit dem aufschlußreichen Titel "Die Geheime Geschichte der Mongolen" (1240) nur einem begrenzten Personenkreis zugängig war. Mongolische Historiker verweisen darauf, daß derartige Aufzeichnungen im Range eines Heiligtums standen und kultische Verehrung genossen.
Die "Geheime Geschichte" enthält zahlreiche Legenden über bedeutende Vorfahren Tschingis Chaans, doch keine erklärt, woher eigentlich der Name "Mongol" kommt. Er wird hier zum erstenmal in Zusammenhang mit dem Stammesführer Qabul erwähnt (etwa 1130-1150). Doch bereits Jahrhunderte zuvor, im 7. - 8. Jahrhundert, haben die Men-gu oder Men-gu-li die Aufmerksamkeit chinesischer Chronisten auf sich gezogen. Sie gehörten zu den Schiwei und werden von mongolischen Historikern vielfach als die Vorfahren der heutigen Mongolen angesehen. 
Einer häufig vertretenen Hypothese zufolge geht "Mongol" auf "Mon", einen alten Stammesnamen zurück. Dieser wiederum läßt sich nach dieser Hypothese auf den Namen eines Flusses oder eines Berges im Siedlungsgebiet der Mon zurückführen. Bereits D. Banzarov verwies in diesem Zusammenhang auf einen Berg Mon im Ordos-Gebiet, der von den Mongolen von alters her als Heiligtum verehrt wird.
Uns geht es aber keineswegs darum, diese unterschiedlichen Hypothesen zu erläutern und gegeneinander abzuwägen, vielmehr soll eine Legende vorgestellt werden, derzufolge "Mongol" ursprünglich der Name eines Chaans war. Diese Legende ist auch insofern interessant, da sie zeigt, daß sich Reste eines sippengebundenen Geschichtsbewußtseins bei den Mongolen bis in die jüngste Vergangenheit erhalten konnten.
Die Geschichte vom Lande Ineg güren und seinem Herrscher Naran Mongol wurde mir vor einigen Jahren von einem mongolischen Bekannten, Dandsangijn Damdinsüren, erzählt, der heute etwa sechzig Jahre alt sein dürfte. Er selbst hörte sie als etwa zwölfjähriges Kind von seiner Tante Nazag, der 1895 geborenen jüngeren Schwester seines Vaters, die sich für die Erziehung und Bildung des Knaben verantwortlich fühlte. (Daß die mongolischen Frauen bei der sozialethischen Erziehung der Jugend von alters her eine führende Rolle spielten, erwähnt auch Dshügder . Indem sie die Kinder mit Märchen, Legenden, Lehrdichtungen u. dgl. unterhielten, vermittelten sie ihnen neben den ethischen und ästhetischen Grundwerten der Vorfahren gleichzeitig ein bestimmtes Geschichtsbild.) Die Legende ist angeblich Bestandteil eines verschollenen Buches mit dem Titel Dsambutiwijn dsham ("Die Ordnung der Welt"), dessen erste Fassung in grauer Vorzeit ("vor vielen Tausend Jahren") in einer altertümlichen "Dreiecksschrift" (gurwaldshin bitschig) niedergeschrieben worden sein soll. Die angeblich dritte Fassung des Buches, um die es hier geht , wurde bei den Bordshigid als Familiengeheimnis gehütet. Auch die alte Nazag vergaß nicht, ihren Neffen zu ermahnen, dieses Geheimnis Sippenfremden gegenüber zu wahren, und erst gewisse Umstände, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, vor allem aber die Sorge, daß diese Legende endgültig in Vergessenheit geraten könnte, veranlaßten Damdinsüren, mit seinen Erinnerungen die Öffentlichkeit zu suchen.
Der Erzählung Nazags zufolge lebten die Mongolen ursprünglich in einem warmen, sandreichen Land, in dem es niemals Winter wurde. Sie waren seßhaft, bauten Getreide an, hielten Geflügel, Schweine und andere Haustiere. Außerdem waren sie geschickte Handwerker. Das Zentrum des Landes war die schöne alte Stadt Usanchajnag. Sie besaß unermeßliche Reichtümer an Gold und Edelsteinen. Die ganze Stadt leuchtete goldgelb. Deshalb nannte man sie Schidshir Usanchajnag ("Das Goldene Usanchajnag"). Im Zentrum der Stadt stand ein prunkvoller Tempel. Seine Wände waren über und über mit dem Gehörn des Wasserbüffels geschmückt, dem die Stadt ihren Namen verdankte . Das Tempeldach zierte ein großer Hahn, der die Untertanen jeden Morgen bei Sonnenaufgang weckte. Dies wurde durch einen Mechanismus bewirkt, den das Wasser eines Gebirgsbaches in Bewegung setzte.
Weil die Menschen ihr Land über alles liebten, nannten sie es Ineg oder Ineg güren. . Irgendwann einmal herrschte in Ineg güren ein Chaan mit Namen Mongol. Unter seiner Regierung lebte das Volk glücklich und zufrieden; es sang Lobeshymnen auf das Land und auf den Herrscher und gab ihm den Beinamen Naran ("Sonne"). Doch der Chaan Naran Mongol hatte nicht nur Freunde. Anlaß zu Unmut und Kritik boten bereits seine unkonventionellen Gewohnheiten. So aß er mit Vorliebe ungekochtes getrocknetes Rindfleisch, auch arbeitete er gern im Schweinestall und verrichtete andere niedere Tätigkeiten, die sich für einen Herrscher wenig schickten. Naran Mongol war im Besitz eines Elixiers, das das Leben um "viele Tausend Jahre" verlängern konnte. Das machte seine Minister, die selbst nach der Macht strebten, neidisch. Sie ließen alle Menschen, die sich auf die Herstellung des Elixiers verstanden, töten. Daraufhin starb Naran Mongol im Alter von 456 Jahren. Nach seinem Tode versuchten seine Gegner, seinen Namen auszulöschen, vor allem den Beinamen Naran. Dazu änderten sie auch die Symbole des Staates. Nun zerfiel das Volk von Ineg in zwei Lager: Die einen wandten sich von Naran Mongol ab, die anderen blieben ihm treu und nannten sich fortan nach ihm Mongol oder Mongoltschuud, die Anhänger Mongol Chaans.
Ein auffallend großer Teil der Erzählung ist den Symbolen des Staates Ineg gewidmet: dem erwähnten Buch "Dsambutiwijn dsham", das der Legende zufolge "die ganze Wahrheit über die Mongolen" enthielt und auch von Naran Mongol als Heiligtum verehrt wurde; ferner dem Siegel, dem Wappen, dem Thron des Herrschers, dem Staatsschatz u.a.m., also den Attributen, mit denen das Volk von Ineg seine ethnische und staatliche Identität verband.
Das Siegel Naran Mongols hatte die Form eines Hufeisens und trug in der Mitte die Aufschrift "Chaan Mongol". Es war berühmt unter der Bezeichnung "zengeltej Ineg gürnij tachan tamga" ("Hufeisensiegel des freudenreichen Ineg güren"). Seinen Beinamen "Naran" pflegte der Chaan eigenhändig mit gelber Tusche hinzuzufügen. Das Hufeisen war auch Bestandteil des Staatswappens, mit dem u.a. die Lehne des Thronsessels geschmückt war. Über dem Hufeisen prangten eine Mondsichel, die Sonne und ein Stern, der seine Strahlen in fünf Richtungen aussandte. Die Nachfolger Naran Mongols, die ihm übel gesonnen waren, setzten an die Stelle des Hufeisens eine symbolische Befestigungsanlage und drohende Schwerter, an die Stelle der Inschrift setzten sie ein Fischpärchen. So entstand das Sojombo, dieser Legende zufolge also ursprünglich ein Symbol der Feinde der Mongolen.
Der Palast des Chaans Naran Mongol war ganz und gar aus Glas gebaut. Er hatte Fußböden aus Sandel- und Ebenholz. Besonders ausführlich werden der Thronsessel und ein dazugehörender Tisch beschrieben. Die Platte dieses Tisches, so heißt es, bestand aus purem Gold. Um ihn herum, an den vier Kanten entlang, schlängelten sich in Richtung des Sonnenlaufs vier Schlangen, deren Köpfe an den Ecken lagen. Die Tischbeine stellten einen ruhenden Löwen dar, den Vogel Garudi, ein Krokodil und einen Recken in voller Rüstung. Er saß auf der Ferse, das linke Bein gebeugt; die rechte Hand holte mit einem Kurzsäbel aus, während sich die linke auf eine kurze Keule stützte. Diese vier Figuren bestanden aus Eisen und trugen die Tischplatte auf ihren Köpfen. Unter dem Tisch befand sich ein Becken mit Goldfischen, in dem das Wasser aufgefangen wurde, das dem Krokodil aus dem Maul rann. Der Thronsessel war so beschaffen, daß man darauf sowohl sitzen als auch liegen konnte. Seine Beine hatten die Gestalt von Elefanten, die in die vier Himmelsrichtungen blickten. Zu beiden Seiten des Throns standen unter goldenen Bäumen lebensgroße nackte Dakinis aus Silber. Ihre Hände ruhten auf den Köpfen der Elefanten. In einem Magtaal, das im Volk gesungen wurde, heißt es:

    "Der schönste der Segensprüche (erfüllt sich) im Traum,
    Die schönsten der Träume sind Sonnen- und Mond-Dakini,
    Der Wunsch der Dakinis ist Glück für Ineg,
    Das Heiligtum Inegs ist sein Siegel..."

Das Siegel wurde von einem kunstvoll gearbeiteten goldenen Pferd getragen, das auf dem Tisch prangte. Unter dem Namen Tajchan Scharga wurde auch dieses Pferd in Liedern besungen, und zwar nach der Melodie des bekannten Volksliedes "Dönön Char" ("Der vierjährigen Rappe"). Eines dieser Lieder ist in Bruchstücken überliefert. Es heißt darin:

    "Unter den Hufen Tajchan Scharga
    Dehnt sich das prächtige Ineg.
    Der zazal mit dem Hufeisensiegel
    Hinterläßt sein Zeichen in fünf Richtungen..."

Mit dem Hufeisensiegel wird hier gleichzeitig noch ein anderes Zeichen der Würde und der Macht des Chaans erwähnt: der zazal, ein löffelartiges Gerät, mit dem im schamanistischen Kult Libationsopfer ausgeführt wurden. Dazu wußte die alte Nazag folgendes zu berichten: Der Chaan nahm nicht jeden Tag seinen Platz auf dem Thron ein, sondern nur zu bestimmten Gelegenheiten. Dieser Tag wurde vom Volk immer mit Freude erwartet, denn der Herrscher bedachte die Anwesenden dann mit einem "Spritzsegen": Mit Hilfe seines keulenförmigen, mit neun Löchern versehenen und mit neun Juwelen geschmückten zazal warf er Edelsteine unter die Menge. Den zazal benutzte der Chaan gleichzeitig zum Rechtsprechen: Senkte er ihn zur Erde, bedeutete dies ein Todesurteil. Hob er das Gerät aber in die Höhe, bedeutete es, daß er jemandem seine Gunst schenkte.
Einige Details der Legende lassen darauf schließen, daß das Volk von Ineg güren Sonne und Mond anbetete. Daneben scheinen das Pferd und der "Wasser-Chajnag" im Zentrum kultischer Verehrung gestanden zu haben. Auch das Feuer wurde verehrt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Interpretation des Flammenzeichens auf dem Sojombo:
Wie bereits erwähnt, verstanden sich die Weisen von Ineg güren auf die Herstellung eines Lebenselixiers. Doch wurde seine Rezeptur geheimgehalten, und nur ein auserwählter Personenkreis kam in seinen Genuß. Es war jedoch allgemein bekannt, daß zu den Ingredienzien Menschenfleisch gehörte. Da nun verständlicherweise viele Menschen den Wunsch hatten, lange zu leben, fingen sie an, Menschenfleisch zu essen. Dadurch aber wurden sie zu Mangassen . Sie ernährten sich nur noch von Menschenfleisch und wurden zu einer furchtbaren Bedrohung für die Menschheit, so daß schließlich alle Menschen der Welt zum Kampf gegen die Mangasse aufbrachen. Endlich, nach vielen Jahren, gelang es den Menschen, sie einzukreisen. Vernichten aber konnte sie nur das Feuer. So brachte jedermann ein Bündel Holz für einen riesigen Scheiterhaufen, und darauf wurden die Mangasse verbrannt. An dieses Feuer erinnert das Flammensymbol auf dem Sojombo. Das Lebenselixier aber durfte fortan nur noch der Chaan einnehmen.
Aufmerksamkeit verdient auch die Geschichte von den verlorenen Schätzen der Goldenen Stadt Usanchajnag. Die Nachbarvölker, so heißt es, gönnten dem Volk von Ineg keine Ruhe. Um den ständigen Überfällen ein Ende zu bereiten, beschloß man, zum Krieg zu rüsten. Damit aber die Schätze von Usanchajnag dem Feind nicht in die Hände fielen, trug man sie weit fort, goß eine Schicht Glas darüber und bedeckte alles mit Sand. Drei Jahre lang arbeiteten die Menschen Tag und Nacht, bis alles sicher geborgen war. Der nun folgende Krieg muß sehr lange gedauert haben, denn als die Mongolen sich Jahrhunderte später ihrer Schätze erinnerten, fanden sie sie nicht mehr. Das Volk weinte bitterlich über den Verlust. Um endlich von der Tränenflut erlöst zu werden, bat man einen Weisen, Aju mit Namen, aufzuschreiben, woran sich jeder noch erinnerte. So entstand in einer neuen Schrift die zweite Fassung des Buches "Dsambutiwijn dsham" mit achtzehn Kapiteln. Die Angehörigen des Herrschergeschlechts, die "Weißknochigen", gaben die Hoffnung, die verlorenen Reichtümer von Usanchajnag doch noch wiederzufinden, niemals auf. Auch von Tschingis Chaan, der ja auch zu den Bordshigid gehörte, sagt die Legende, daß er vergeblich danach gesucht habe. Da zu seinen Lebzeiten das berühmte Buch schon sehr abgegriffen war, soll er kurz vor seinem Tode einen fast blinden alten Mann mit Namen Tolgojntal beauftragt haben, eine neue Fassung zu schreiben. So entstand in abermals neuer Schrift eine gekürzte Fassung mit neun Kapiteln. Diese letzte Version war vorsichtshalber verschlüsselt und konnte nur mit Hilfe eines anderen Buches, eines speziellen Kommentars mit dem Titel "Ich setert galig", gelesen werden.

Leider wissen wir über diese Legenden hinaus nichts von diesem Buch. Fest steht nur, daß weder die "Geheime Geschichte" noch die anderen bekannten Chroniken das Land Ineg oder seinen Herrscher Naran Mongol erwähnen.
So muß man wohl zunächst davon ausgehen, daß es sich um ein fiktives Land und einen fiktiven Chaan handelt und daß Naran Mongol wie viele andere Phantasiegestalten lediglich den Traum der einfachen Menschen von einem idealen Staat und einem idealen Herrscher, von Gerechtigkeit, Wohlstand und einem langen Leben verkörpert. Sein Name aber macht ihn darüber hinaus zu einer Identitfikationsfigur, die die nationalen Gefühle der Mongolen anspricht und sie an eine Zeit nationaler Unabhängigkeit und Größe erinnert. Auch die Symbole, die in Zusammenhang mit ihm beschrieben werden, sind zum großen Teil mit der kulturellen Identität der Mongolen verknüpft: Sonne, Mond und Stern, das Feuer, der Libationslöffel, das Sojombo, das Staatssiegel ...
Das wunderbare Pferd Tajchan Scharga - hier Träger des Staatssiegels -, der gläserne Palast und der Kampf gegen den menschenfressenden Mangas erinnern an mongolische Heldenmärchen und Heldenepen. Daneben erscheinen Bilder und Begriffe, die dem indotibetischen Kulturkreis zugeordnet werden müssen. Das betrifft auch die Legende vom Lebenselixier. Sie erscheint in einem etwas anderen Gewand in der Chronik "Altan towtsch" des Luwsandandsan (Mitte 17. Jh.), und zwar als eine Variante der Geschichte vom "Sündenfall": Durch den Verzehr einer verbotenen Speise büßten die Menschen das Licht ihres Körpers ein, sie verloren ihre Unschuld und damit das Leben in ewiger Harmonie und Glückseligkeit.
Allem Anschein nach handelt es sich bei der Legende von Ineg güren um eine Kompilation verschiedener Erzählmotive, die unterschiedliche Kulturkreise und unterschiedliche zeitliche Ebenen repräsentieren. Das schließt jedoch einen realen historischen Hintergrund nicht von vornherein aus, und angesichts so vieler ungeklärter Fragen um die Herkunft der Mongolen und die Bedeutung ihres Namens scheint es verlockend, zur Aufhellung der Geschichte auch eine solche Legende mit heranzuziehen.
Wo etwa könnte man sich das legendäre Land Ineg vorstellen? Das relativ warme und feuchte Klima, die Nähe von Sandwüsten und die seßhafte Lebensweise, das Vorhandensein einer alten Hauptstadt mit Tempel und Palast, der prächtige Thron, dessen Details Einflüsse süd- oder südostasiatischer Kulturen zeigen - das alles läßt an Indochina denken oder auch an Nordostchina, wo bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden nachweislich mongolischstämmige Völker siedelten.
Die herrschende Religion dieser Völker war der Schamanismus. Bereits auf dem Territorium des Hunnenreiches gab es zahlreiche schamanistische Tempel. Der Shanyi der Hunnu galt als Sohn des Himmels. Von ihm wird berichtet, daß er früh zur Sonne und abends zum Mond betete. Daneben zeigten sich bei den Hunnu auch schon erste Einflüsse des Buddhismus.
Eine seßhafte oder zumindest teilweise seßhafte Lebensweise konnten die Historiker u.a. bei den Uchuan feststellen, die einen relativ starken Stammesverband innerhalb des Xienbi-Reichs darstellten und zum engeren Kreis der Vorfahren der Mongolen gerechnet werden.
Bei der Suche nach dem "freudenreichen" Ineg drängt sich auch der Gedanke an die Mujun auf, nicht zuletzt darum, weil der Name, den sie ihrem Staat gaben, eine phonetische Ähnlichkeit mit "ineg" bzw. chalchmongolisch "janag" aufweist, auch wenn diese nur äußerlich und rein zufällig sein sollte.
Das Stammland der Mujun lag in der Gegend von Liaoxi, östlich des Huanghe-Bogens. Im 4. Jahrhundert lösten sich die Mujun aus dem Verband des zusammenbrechenden Xienbi-Reichs und gründeten 318 unter Mujunhui (Mujun Hui, Mujun Wei) einen eigenen Staat, der etwa hundert Jahre lang relativ mächtig war. Mujunhuis Sohn und Nachfolger Mujunhuan erklärte sich zum Wang und nannte seinen Staat Yan (Yen), wobei er den Landschaftsnamen wieder aufleben ließ, den das Stammland der Mujun während der Zhou-Zeit getragen hatte. Zu seiner Hauptstadt machte er Lunchen und ließ es nach chinesischem Vorbild mit Palast und Ahnentempel ausbauen. Nach Mujunhuan regierte dessen Sohn Mujuntsun (Mujuntschun), der sich 352 zum Huandi von Yan (Yen) erklärte. Ihm folgte eine Reihe weniger bedeutender Herrscher, dann zerfiel das Reich infolge innerfamiliärer Zwistigkeiten und wurde 410 von den Toba-Wei geschlagen. Seitdem fehlt jede Kunde von den Mujun . Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß ein Teil von ihnen über das Ordosgebiet nach Norden abwanderte.
Wie dem auch sei, die alte Frau Nazag hat der Nachwelt über ihren Neffen Damdinsüren eine nicht alltagliche Erzählung mit vielen farbigen Details hinterlassen, die, wenn vielleicht auch nicht so sehr für den Historiker, so doch auf jeden Fall für die Literaturwissenschaft interessant ist und deren einziger Nachteil darin besteht, daß sie sich nur noch bruchstückhaft rekonstruieren läßt, solange das legendäre Buch "Dsambutiwijn dsham" mit dem dazugehörigen Schlüssel nicht gefunden wird.

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