Dalai
Lama (mong. Далай Лам) (aus dem Mongolischen: Ozeangleicher Lehrer, von
Dalai –
mong. Ozean; auch: Gyalwa Rinpoche; wylie: rgyal ba rin po che) ist
seit 1578 der Titel einer der höchsten kultisch-religiösen Autoritäten
des Vajrayana-Buddhismus, der traditionell besonders in Tibet, aber
auch in der Mongolei Verbreitung gefunden hat. Er wurde erstmals als
Ehrentitel im Jahre 1578 vom mongolischen Fürsten Altan Khan an Sönam
Gyatsho verliehen. Zwischen 1642 und 1959,
dem Jahr der Flucht ins Exil, hatte der Dalai Lama zeitweise die
Führung des tibetischen Staatswesens inne, das sich meist auf die
zentraltibetische Doppelprovinz Ü-Tsang beschränkte.
Die Dalai Lamas, die in religiöser Hinsicht in enger Beziehung zu den
Panchen Lamas stehen, sind wie diese traditionell Mönche der
Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus, deren Oberhaupt der Ganden
Tripa ist. Eine Ausnahme war der sechste Dalai Lama Tsangyang Gyatso,
der seine Mönchsgelübde zurückgab.
Der gegenwärtige 14. Dalai Lama ist der Mönch Tenzin Gyatso (Tendzin Gyatsho).
Stellung des Dalai Lama
Allgemeines
Der Dalai Lama
wird im tibetischen Buddhismus als Mensch (Nirmanakaya) angesehen, der
sich aus Mitgefühl entschlossen hat, durch Reinkarnation wieder in das
Leben oder „in die gewöhnliche menschliche Existenz“ einzutreten, um
anderen Wesen dienen zu können, obwohl er als erleuchtetes Wesen
(Bodhisattva) den Kreislauf der Wiedergeburt hätte verlassen können.
Die Dalai Lamas gelten als Emanation Avalokiteshvaras (tib. spyan ras
gzigs; Chenresig) des Bodhisattva des Mitgefühls. Er gilt als Gestalt,
die das Elixier der Barmherzigkeit und Weisheit den Menschen guten
Willens bringt.[1]
Auffindung
Ein Dalai Lama
ist gemäß der Tradition in Tibet ein Trülku (tib.: sprul sku). Dabei
wird angenommen, dass der vorherige verstorbene Dalai Lama erneut eine
Wiedergeburt als Mensch annimmt und dann aufgefunden werden kann. Dies
geschieht durch eine hochrangige, von der Ordensführung autorisierte
Findungskommission. Beispielsweise wurde der vierzehnte Dalai Lama von
mehreren Mönchen gefunden, die Familien mit Kleinkindern im Land
aufsuchten, bei deren Geburt sich besondere Zeichen gezeigt haben
sollen (als besondere Zeichen gelten etwa ungewöhnliche Träume der
Eltern, ungewöhnliche Fähigkeiten des Kindes oder Regenbögen). Die
Mönche stellten den Kleinkindern mehrere Aufgaben, um herauszufinden,
welches von ihnen der wiedergeborene Dalai Lama sei. Eine dieser
Aufgaben war die Wiedererkennung von persönlichen Ritualgegenständen
des Verstorbenen (vgl. Reinkarnationsforschung).
Nachdem die
Entscheidung für einen der Kandidaten gefallen ist, wird das Kind
offiziell zur Reinkarnation des vorherigen Dalai Lama erklärt und soll
eine klösterliche Ausbildung in tibetischem Buddhismus sowie in
tibetischer Kultur, unter anderem Sprache, Schrift, Kalligrafie und
Allgemeinwissen erhalten. Bei dieser spielt der Penchen Lama eine
Rolle, der zum Dalai Lama in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis der
Gelug-Schule steht.
Geschichte
Mongolischer
Ursprung
Der
Ehrentitel Dalai Lama wurde erstmals im Jahre 1578 an Sönam Gyatsho
verliehen, als dieser sich auf Einladung des Fürsten der Tümed-Mongolen
Altan Khan zu einer Missionsreise für einige Monate an dessen Hof
begab. Er revanchierte sich und verlieh seinerseits dem Mongolenfürsten
einen Ehrentitel. Auf diese Weise unterstellte er das Reich des Altan
Khan seinem geistlichen Schutz und sicherte sich im Gegenzug dessen
Unterstützung im Kampf seines Ordens um die Vorherrschaft gegen die
rivalisierenden lamaistischen Schulen. Da die beiden Vorgänger Sönam
Gyatshos nachträglich als Dalai Lama anerkannt wurden, zählt er selbst
als der dritte Dalai Lama.
Ausüben staatlicher
Hoheitsgewalt
Als
der westmongolische Fürst Gushri Khan, der sich als Schutzherr des
Dalai Lama sah (damals war dies Ngawang Lobsang Gyatsho, der 5. Dalai
Lama) in einem mehrjährigen Krieg Zentraltibet eroberte und am 7.
Februar 1642 nach Einnahme der Stadt Shigatse den letzten König von
Tsang Tenkyong Wangpo (1606–1642) gefangen nahm, proklamierte er sich
zunächst selbst zum Herrscher über Tibet. Am 3. Mai 1642 erklärte er
sodann in einer feierlichen Zeremonie den Dalai Lama zur obersten
Autorität ganz Tibets, „von Dajianlu (siehe auch Kardze) im Osten bis
nach Ladakh im Westen“. Die politische Gewalt der Regierung Ganden
Phodrang (tib.: dga' ldan pho brang) sollte von einem „Desi“ (tib.: sde
srid; Regent) ausgeübt werden, der mit den Befugnissen eines
Premierministers ausgestattet war.
Folgen der ersten Vakanz
Als
der 5. Dalai Lama am 2. April 1682 starb, entstand für die Regierung
Tibets eine schwierige Lage. Sie musste sich auf die Suche nach seiner
Reinkarnation machen, einem neugeborenen Kind, musste diesem Kind eine
erstklassige Erziehung und Ausbildung angedeihen lassen und auf seine
Volljährigkeit warten, bis er als 6. Dalai Lama die Herrschaft über das
Land antreten konnte. So lange, eine ganze Generation lang, würden
Tibet und seine Regierung ohne Staatsoberhaupt auskommen müssen. Man
durfte annehmen, dass benachbarte Völker, aber auch Kräfte im Inneren
diese Zeit eines gewissen Machtvakuums zu ihrem Vorteil und zum
Nachteil Tibets nutzen würden. Um dem vorzubeugen, habe der 5. Dalai
Lama den Desi Sanggye Gyatsho (1653–1705) noch auf dem Sterbelager
instruiert, seinen Tod so lange geheim zu halten, bis die Arbeiten am
Potala-Palast vollendet wären. So geschah es auch, offenbar mit
Billigung und Unterstützung aller wichtigen Hofbeamten und Geistlichen.
Um den Anschein aufrecht zu erhalten, musste von Zeit zu Zeit ein
öffentlicher Auftritt oder eine Audienz für mongolische Würdenträger
inszeniert werden. Je nachdem wurde mitunter seine Zeremonialrobe in
der Audienzhalle auf den Thron gesetzt oder ein geeigneter Mönch musste
den Souverän doubeln. Auch die Ausbildung des 6. Dalai Lama litt unter
der Notwendigkeit zur Geheimhaltung. Es durften nur Geheimnisträger
wissen, wer er war. Erst 1696, ein Jahr nach der Vollendung des
Potala-Palastes, gab der Desi bekannt, dass der Dalai Lama schon 1682
verstorben sei und präsentierte einen 13-jährigen Jungen als seine
Reinkarnation. Sowohl die verbündeten Mongolen als auch der chinesische
Kaiser (Kangxi), der den Dalai Lama und seine Lehre zu schätzen wusste,
die tibetische Politik der letzten Jahre aber als chinafeindlich
erlebte, fühlten sich hintergangen. Das Vertrauen in die Institution
des Dalai Lama wurde schwer erschüttert.
Ein solcher Versuch, den
Tod des Dalai Lama geheim zu halten, wurde nach diesen Erfahrungen
nicht mehr unternommen. Allerdings wurde es in den folgenden zwei
Jahrhunderten Normalzustand, wie ein Blick in die nachstehende Liste
zeigt, dass in Tibet die Staatsgeschäfte von Regenten geführt wurden,
weil der Dalai Lama noch minderjährig war. Viele von ihnen starben in
jungen Jahren.
Wirren um den 6. Dalai
Lama
Berichtenswert
sind die Wirren, die zunächst zur Absetzung des 6. Dalai Lama
Tshangyang Gyatsho führten und im weiteren Verlauf dazu, dass Tibet
dauerhaft unter chinesischen Einfluss kam.
Seit dem geheim
gehaltenen Tod des 5. Dalai Lama und auch nach der Inthronisierung von
Tshangyang Gyatsho betrieb der Desi tibetische Machtpolitik, indem er
verschiedene mongolische Stämme gegeneinander und gegen China
ausspielte. Zu seinem Unglück wurde 1696 der mongolische Stamm der
Dsungaren, auf den er sich stützte, von den Truppen des Kaisers
entscheidend besiegt. Nun spielten die Chinesen wiederum andere
mongolische Stämme gegen den Desi aus. Angesichts der gerade eben
enthüllten Täuschungsmanöver über den Tod des 5. Dalai Lama fiel das
nicht schwer.
Der 6. Dalai Lama wurde den in ihn gesetzten
religiösen Erwartungen nicht gerecht. Er pflegte einen sehr freizügigen
Lebenswandel. Als der Desi versuchte, den Freund Tshangyang Gyatshos zu
ermorden, der ihn bei seinen Ausschweifungen begleitete, führte dies
zum Bruch mit dem Regenten und letztlich dazu, dass er sich im Kloster
Trashilhünpo 1702 durch den 5. Penchen Lama Lobsang Yeshe von allen
Gelübden entbinden und in den Laienstand zurückversetzen ließ. Die
Würde des Dalai Lama verblieb ihm. Wenn auch die Geistlichkeit mit ihm
unzufrieden war, so wurde er doch beim einfachen Volk mit jeder
weiteren Eskapade nur noch populärer. Die Spannungen mit den religiös
auf den Dalai Lama ausgerichteten Mongolen, die die Zustände an seinem
Hof als unwürdig ansahen, wuchsen nach der Laisierung des Dalai Lama
dramatisch. Sie führten zum Rücktritt des Desi, schließlich, als er im
Hintergrund weiterhin die Fäden zog, zu seiner Enthauptung und zur
Besetzung Tibets durch die mit dem Kaiser verbündeten mongolischen
Stämme im Jahre 1705. Der Dalai Lama war sowohl dem Kaiser als auch den
Mongolen unantastbar, und dennoch war er ihnen im Weg. Sie ließen
verbreiten, er sei nicht die wirkliche Reinkarnation und habe die
Stellung des Dalai Lama zu Unrecht usurpiert. Um ihn zu stürzen, setzte
man den Hebel jedoch nicht bei seinem leichtfertigen Lebenswandel an,
sondern bezichtigte ihn der Häresie. Er gefährde die Lehre der
herrschenden Gelug-Schule. Im Juni 1706 ließ der Khan ihn aus dem
Potala-Palast holen und erklärte ihn förmlich für abgesetzt. Mit einem
Sondergesandten des Kaisers wurde er auf den Weg zum kaiserlichen Hof
nach Peking gebracht. Er starb unterwegs am 14. November 1706.
Seit
1706 fungierte der Mongole Labsang Khan offiziell als Regent in Lhasa
und erklärte, da der Dalai Lama nicht echt gewesen sei, müsse der echte
erst noch gefunden werden. Im Jahr darauf präsentierte er einen 1686
geborenen Mönch, der vom 5. Penchen Lama unter dem Namen Yeshe Gyatsho
als 7. Dalai Lama inthronisiert wurde. An dessen Echtheit kamen jedoch
bald Zweifel auf. Dennoch wurde dieser Dalai Lama 1710 auch vom Kaiser
offiziell anerkannt. Er befahl allen Tibetern, Labsang Khan und dem
Dalai Lama zu gehorchen. Als Gegenleistung verpflichtete sich der Khan
zu jährlichem Tribut.
Ein neuer Konflikt brach aus, als bekannt
wurde, dass man in Osttibet, in der Gegend von Lithang (Kham), eine
Inkarnation Tshangyang Gyatshos gefunden habe. Nach Anerkennung durch
die Mönche von Lithang als 7. Dalai Lama wuchs der Zuspruch, den das
Kind fand, immer mehr, so dass es 1714 vor dem Zugriff des Khans, der
sich weiter auf Yeshe Gyatsho stützte, nach Osten in das Kloster Dege
in Sicherheit gebracht wurde. Der Kaiser wurde mit der verworrenen Lage
befasst. Er entschied schließlich, dass der Junge im August 1716 in das
große Kloster Kumbum gebracht wurde.
Im Jahr 1717 nutzte der
Dsungaren-Herrscher die Chance, Labsang Khan und die mit dem Kaiser
verbündeten Mongolenstämme aus Tibet zu verdrängen. Er rückte mit einem
starken Heer nach Tibet ein, gab gegenüber Labsang Khan vor, er komme
als Verbündeter im Krieg gegen Bhutan, verbreitete gegenüber den
Tibetern jedoch während des Marsches, er kämpfe nur für die Einsetzung
des rechtmäßigen, des 7. Dalai Lama. Damit zog er viele Tibeter auf
seine Seite. Doch der von den Dsungaren zum Kloster Kumbum entsandte
Trupp, der den 7. Dalai Lama holen sollte, wurde vernichtend
geschlagen. Gleichwohl wurde Lhasa noch vor Jahresende erobert, wobei
Labsang Khan im Kampf fiel. Der von ihm protegierte Dalai Lama Yeshe
Gyatsho wurde abgesetzt und später nach China deportiert. Da in Teilen
Tibets noch Gefolgsleute Labsang Khans herrschten, war die Einheit des
Landes zerfallen. Es machte sich Enttäuschung breit, dass der 7. Dalai
Lama entgegen den Versprechungen nicht aus Kumbum befreit worden war,
und die Dsungaren konnten sich nur mit einer Gewaltherrschaft in Lhasa
halten.
Unterordnung unter das
kaiserliche China
Der
Kaiser entsandte ein starkes Heer nach Tibet. Dieses geleitete den
12-jährigen 7. Dalai Lama Kelsang Gyatsho am 16. Oktober 1720 nach
Lhasa. Am 24. April 1721 überbrachte eine Gesandtschaft des Kaisers die
offizielle Anerkennung des Dalai Lama und ließ bei dieser Gelegenheit
das große Staatssiegel überreichen, auf dem dreisprachig in Mandschu,
Mongolisch und Tibetisch zu lesen war: „Siegel des Sechsten“ (!) „Dalai
Lama, Führer der Lebewesen, Verbreiter der Lehre“. Als
Regierungsinstanz schafften sie das Amt des Desi ab und errichteten
einen Ministerrat (tib.: bka' shag;Kashag). Der Vorsitzende und sein
Stellvertreter wurden vom Kaiser berufen. Nunmehr stand Tibet unter der
direkten Oberhoheit des Kaiserreiches. Zwar zog die kaiserliche Armee
bald ab, jedoch blieb eine Garnison von 3000 Mann in Lhasa zurück.
Als
1727 der Vorsitzende des Ministerrates von den Ministern (tib.: bka'
blon; Kalön) ermordet wurde und sein Stellvertreter ihnen entkam,
brachen neue Unruhen aus. Wiederum schickte der Kaiser (Yongzheng) eine
Armee und stellte Ruhe und Ordnung wieder her. In einem Schauprozess
ließ der Kaiser die Verschwörer, zu denen auch der Vater des Dalai Lama
zählte, verurteilen. Der Dalai Lama wurde mit seinem Vater für sieben
Jahre nach Garthar nahe ihrer Heimat Lithang verbannt. Um neuen Unruhen
vorzubeugen, stärkte der Kaiser die Position des Vorsitzenden des
Ministerrates (Premierminister), zu dem der bisherige Stellvertreter
ernannt wurde. Allerdings wurden ihm zwei Ambane zur Seite gestellt,
chinesische Residenten, die direkt dem Kaiser unterstellt waren. Auf
Geheiß des Kaisers wurde der 7. Dalai Lama nach Ablauf der Verbannung
von einer chinesischen Eskorte nach Lhasa gebracht und konnte am 3.
September 1735 wieder in den Potala-Palast einziehen. Seine Befugnisse
blieben auf den geistlichen Bereich beschränkt.
Der Premierminister
starb am 12. März 1747. Sein Sohn beerbte ihn in diesem Amt, begann
aber bald, gegen Peking zu konspirieren, nahm insgeheim Kontakte zu den
Dsungaren auf und wurde daraufhin am 11. November 1750 von den Ambanen
eigenhändig erstochen, woraufhin sie vom wütenden Mob ermordet wurden.
In den danach ausbrechenden Unruhen übernahm der Dalai Lama die
Position der Ambane und erklärte, sie hätten recht gehandelt. Er
ernannte einen neuen Premier und kerkerte den Anführer der Unruhen ein.
Anschließend berichtete er dem Kaiser über die Ereignisse. Dieser
übertrug dem Dalai Lama am 7. Februar 1751 neben der geistlichen auch
wieder die politische Herrschaft über Tibet. Als Regierungsorgan wurde
ihm der vierköpfige „Kashag“ (tib.: bka' shag) unterstellt. Die
Stellung der kaiserlichen Ambane wurde weiter gestärkt. Sie konnten
unmittelbar in die tibetische Politik eingreifen, da wichtige
Entscheidungen von ihrer Zustimmung abhängig waren.
Unmittelbar nach
dem Tod des 7. Dalai Lama am 22. März 1757 beschlossen der Kashag und
andere hohe Würdenträger, einen Gyeltshab (tib.: rgyal tshab) als
Regenten zu ernennen, der die weltliche Herrschaft ausüben sollte, bis
der 8. Dalai Lama aufgefunden war und die Volljährigkeit erreicht
hatte. Der so ernannte Regent wurde vom Kaiser bestätigt. Als der 8.
Dalai Lama Jampel Gyatsho volljährig wurde, dankte der Gyeltshab ab und
übergab ihm mit den kaiserlichen Siegeln am 21. Juli 1781 die weltliche
Macht. Allerdings bewies er 1788 beim erfolgreichen Einfall der
Gurkhas, die in Nepal die Herrschaft erlangt hatten, so wenig Geschick,
dass der Kaiser ihm die Regierungsbefugnisse entzog und wieder einen
Regenten ernannte. Die militärische Situation bereinigte der Kaiser mit
einem Feldzug.
Goldene Urne und niedrige
Lebenserwartung
Im
kaiserlichen Palast hegte man den Verdacht, dass das Findungs-Ritual
der großen Inkarnationen, besonders des Dalai Lama und des Penchen
Lama, von Missbrauch bedroht war. So ordnete der Kaiser an, dass das
tibetische Staatsorakel des Klosters Nechung zu allen in Betracht
gezogenen Knaben zu befragen sei. Unter der Aufsicht eines kaiserlichen
Ambans sollte das Orakel drei Jungen auswählen. Die Auswahl aus diesen
drei Namen sollte der Regent in Anwesenheit des Ambans durch Ziehung
von Losen aus einer Goldenen Urne treffen. Ferner wurde jenen, denen
das Recht zustand, den Ort einer Reinkarnation bekannt zu geben,
verboten, auf Kinder aus der nächsten Verwandtschaft des Verstorbenen,
eines mongolischen Khans, von hoch stehenden Fürsten, Adligen oder
militärischen Oberbefehlshabern hinzuweisen. In der Folgezeit gab es
immer wieder Versuche, diese ungeliebten kaiserlichen Regeln zu
umgehen, besonders das Losverfahren, jedoch ging der kaiserliche Hof
nicht hiervon ab und rügte alle Verstöße. Mit List oder Glück ist
jedoch im Losverfahren immer ein Dalai Lama bestimmt worden, den auch
das althergebrachte Ritual identifiziert hätte. Dadurch, dass der 9.
bis 12. Dalai Lama, teilweise unter nie geklärten Umständen, in noch
jugendlichem Alter starben, gab es häufig genug Gelegenheit, die
Goldene Urne anzuwenden. Auch wenn ihnen teilweise noch kurz vor ihrem
Tod die Regierung übertragen wurde, so kann man doch sagen, dass Tibet
ab 1788 für mehr als hundert Jahre nur von Regenten geführt wurde.
Schwinden kaiserlicher
Macht in Tibet
Erst
dem 13. Dalai Lama Thubten Gyatsho sollte es in der Zeit vom 26.
September 1895 bis zum 17. Dezember 1933 wieder vergönnt sein, die
weltliche Macht in Tibet auszuüben. Vor seiner Amtsübernahme stürzten
die großen Lamas und der Kashag den Regenten, dessen Kaisertreue
zuletzt die wichtigste Stütze kaiserlicher Macht in Tibet war.
Seit
dem Feldzug gegen die nepalesischen Gurkhas 1792 war der Kaiser nicht
mehr in der Lage gewesen, Tibet tatkräftig gegen Bedrohungen von außen
zu schützen. Das Reich der Mitte verfiel von einem Schwächezustand in
den nächsten, nach dem 1. Opiumkrieg gegen die Briten (1839–1842) kam
die Taiping-Rebellion und eine britisch-französische Militärexpedition
(1851–1864) und dann der Japanisch-Chinesische Krieg (1894–1895). In
dieser Zeit ereignete sich in Tibet vieles: Es brachen Unruhen aus, die
mit Zugeständnissen Pekings beendet wurden, namentlich mit einer
starken Reduzierung der kaiserlichen Garnison (1806), die Sikh
eroberten das buddhistische Fürstentum Ladakh und fielen in Tibet ein
(1834–1842), eine Invasion der nepalesischen Gurkhas konnte nicht
zurückgeschlagen werden (1854–1856), in Osttibet lösten Unruhen eine
Fluchtbewegung nach Zentraltibet aus (1863), es gab einen Grenzkonflikt
mit britisch-indischen Gurkhatruppen (1888–1890).
Zunahme des russischen
Einflusses
Die
Mächtigen in Tibet stellten sich, wie auch die in anderen Randprovinzen
des Reiches, in dieser Situation die Frage nach einer besseren
Schutzmacht. Besonders das Britische Empire vom indischen Subkontinent
aus und das damalige russische Zarenreich von Norden her waren an
Zentralasien interessiert.
Im russischen Vielvölkerstaat lebten auch
zahlreiche Anhänger des Vajrayana-Buddhismus. Für sie war es nicht
ungewöhnlich, nach Lhasa als ihrem religiösen Zentrum zu pilgern, um
sich dort nach entsprechender Vorbereitung als Mönch weihen zu lassen.
Für den Zar Alexander III. wiederum war es von Interesse, Einfluss auf
den Dalai Lama als den religiösen Führer vieler seiner Untertanen zu
erlangen. Es ergab sich, dass ein burjät-mongolischer Mönch aus dem
Transbaikalgebiet mit Namen Ngawang Dorje (Agvan Dorzhiev) 1888 nach
Lhasa pilgerte, um im Kloster Drepung zu studieren. Er avancierte zu
einem der Hilfstutoren des jungen 13. Dalai Lama Thubten Gyatsho und
fungierte ab 1897 inoffiziell als Sekretär für auswärtige
Angelegenheiten. Im Jahr 1900 – der kaiserliche Hof in Peking war
gerade mit dem Boxeraufstand beschäftigt – entsandte ihn Thubten
Gyatsho nach Russland, um dem Zaren ein Schreiben zu überbringen. Zar
Nikolaj II. empfing Ngawang Dorje in Jalta.
Auswirkung britischer
Gegenmaßnahmen
Lord
George Curzon, der britische Vizekönig von Indien, versuchte mit
diplomatischen Mitteln, den russischen Einfluss auf Tibet einzudämmen.
Er sandte 1900 einen Brief an den 13. Dalai Lama, dessen Annahme dieser
verweigerte mit der Begründung, er dürfe die Ambane nicht übergehen.
Auch einen zweiten Brief 1901 ließ er mit der gleichen Begründung
ungeöffnet zurückgehen. Dementgegen traf im Juni 1901 eine tibetische
Gesandtschaft unter der Führung Dorzhejevs in Sankt Petersburg bei Zar
Nikolaj II. ein mit Briefen und Geschenken des Dalai Lama. Man wurde
sich einig in dem Ziel, Tibet dem russischen Reich anzugliedern.
Im
Jahr 1902 drohte Lord Curzon nach seinen diplomatischen Fehlschlägen
mit der Besetzung des für den Handel wichtigen Chumbi-Tales an der
Grenze zu Sikkim. Schließlich begannen im tibetischen Grenzort
Khampadzong im Juni 1903 tibetisch-britische Verhandlungen, die aber
von tibetischer Seite bald abgebrochen wurden. Die britische Seite
wollte die Fortführung der Verhandlungen ab November 1903 mit einem
Tibetfeldzug unter Francis Younghusband erzwingen und rückte
etappenweise gegen Lhasa vor. Da Russland ab Februar 1904 durch den
Russisch-Japanischen Krieg militärisch gebunden war, war es
außerstande, seine geplante Rolle als neue Schutzmacht Tibets
wahrzunehmen. Als die Militärexpedition am 29. Juli 1904 den Tsangpo
erreichte, erkannte der Dalai Lama den Ernst der Lage, aber jetzt
lehnte Younghusband Verhandlungen ab. Daraufhin verließ Thubten Gyatsho
am nächsten Morgen Lhasa und floh mit großem Gefolge in die Mongolei.
Nach
der Besetzung von Lhasa am 3. August 1904 begannen Verhandlungen der
Briten mit dem Amban und dem vom Dalai Lama vor der Flucht ernannten
Regenten. Im Vertrag vom 7. September 1904 wurde zunächst geklärt, dass
Tibet weiterhin unter der Oberhoheit des Kaiserreiches stehe und keine
eigenständigen Beziehungen mit fremden Staaten anknüpfen dürfe.
Lediglich den britischen Handelsinteressen wurde Rechnung getragen.
Noch im September erfolgte der Rückzug der Briten. Die Integration von
Tibet in das britische Empire war gescheitert. Zudem wies die
Kaiserinwitwe Cixi (Tzu-Hsi) den Amban an, den ausgehandelten Vertrag
nicht zu unterschreiben.
Noch in Anwesenheit der Briten musste der
Amban am 13. September 1904 ein kaiserliches Dekret über die Absetzung
von Thubten Gyatsho und die vorläufige Abschaffung der Würde des Dalai
Lama verkünden. Die Tibeter jedoch ignorierten diese Absetzung, und
auch die chinesischen Behörden empfingen den Dalai Lama im November
1904 mit allen Ehren in Urga. Um ihn zu sehen, strömten während seines
Aufenthalts in der Mongolei auch große Pilgerscharen aus dem Russischen
Reich herbei. Im Frühjahr 1905 ließ er abermals eine Gesandtschaft nach
Sankt Petersburg an den Hof des Zaren reisen.
Obwohl ihn chinesische
Behörden dazu drängten, nach Tibet zurückzukehren, hatte er damit keine
Eile. Bis 1908 blieb er im Norden, denn die schwere Niederlage des
Russischen Reiches gegen Japan und die Wirren der anschließenden
Russischen Revolution beunruhigten ihn.
Erneut wachsender
kaiserlicher Machtanspruch auf Tibet
Die
Schwächung Russlands gab der Politik des Kaiserreichs China in Tibet
wieder Auftrieb. Der Vertrag von Lhasa wurde noch im April 1906 von der
chinesischen Regierung bestätigt und sie kam anstelle der Tibeter für
die Kriegsentschädigung an das britische Empire auf. Damit gab die
chinesische Regierung unmissverständlich ihren unveränderten
Hoheitsanspruch über Tibet zu verstehen. Großbritannien und Russland
verständigten sich am 31. August 1907 im Vertrag von Sankt Petersburg
über ihre Interessensphären in Zentralasien und beendeten die
Konfrontation. Sie vereinbarten, dass Tibet zur britischen, die
Mongolei und Turkestan zur russischen Einflusssphäre gehören sollten.
Die
Kaiserinwitwe Cixi sah nun den Zeitpunkt gekommen, den Dalai Lama nach
Peking einzuladen. Gegen den dringenden Rat Großbritanniens und
Russlands entschloss sich der 13. Dalai Lama, mit Blick auf die
geänderten Machtverhältnisse, dieser Einladung Folge zu leisten, wenn
auch ganz ohne Eile. Ganze fünf Monate hielt er sich zum Gebet und zur
Meditation am Wutai Shan auf, empfing dort aber auch Diplomaten aus
aller Welt. Nach wiederholten Aufforderungen aus Peking reiste er
schließlich weiter und wurde Ende September 1908 in Peking mit
protokollarischen Ehren, jedoch nicht wie das Oberhaupt eines
souveränen Staates empfangen. Bei der kaiserlichen Audienz sollte er
vielmehr als Vasall des Kaiserreichs China den als Unterwerfungsgeste
üblichen Kotau vollziehen. Da er diesen verweigerte, musste vor der
Audienz erst ein Kompromiss gefunden werden. Es wurde vereinbart, er
solle sich zur Begrüßung nur auf ein Knie niederlassen und zudem den
Boden nur leicht mit der rechten Hand berühren. Jetzt stand der Audienz
am 14. Oktober nichts mehr im Wege.
Am 3. November 1908 erließ die
Kaiserinwitwe Cixi ein Edikt, in dem die Verleihung eines neuen Titels
an den Dalai Lama vorgesehen war, der an Stelle des an den 5. Dalai
Lama Ngawang Lobsang Gyatsho verliehenen Titels treten und die
gehorsame Unterordnung des Dalai Lama unter den Kaiser festschreiben
sollte: „Aufrichtig gehorsamer, durch Wiederverkörperung hilfreicher,
hervorragender, aus sich selbst existierender Buddha des Westens“. Der
Titel sollte mit einer jährlichen Zuwendung des Sichuan-Schatzamtes
verbunden sein und den Dalai Lama dazu verpflichten, in Tibet den
Gesetzen des Reiches in gebührender Weise Geltung zu verschaffen. Ihm
blieb kein Weg, der Verleihung des Titels auszuweichen, und so begnügte
er sich damit, gegen das in dem Edikt enthaltene Verbot zu
protestieren, sich unmittelbar unter Umgehung der Ambane an den Kaiser
wenden zu dürfen.
Die Planungen für den feierlichen Staatsakt zur
Verleihung des Titels mussten durch den Tod des Kaisers Guangxu am 14.
November 1908 und den der Kaiserinwitwe am Tag danach geändert werden.
Ohne Entscheidung über seinen Protest wurde der Dalai Lama ersucht,
nach Tibet zurückzukehren. Unterwegs im Kumbum-Kloster werde man ihm
den neuen Titel verleihen. Vor seiner Abreise bekundeten Vertreter der
kaiserlichen Regierung ihm gegenüber die Absicht, Tibet in eine
chinesische Provinz umzuwandeln, mehr Beamte und Soldaten dorthin zu
schicken und Volksschulen mit obligatorischem Unterricht in
chinesischer Sprache einzurichten.
Am 4. März 1909 fand im
Kumbum-Kloster die Verleihung des kaiserlichen Titels an den Dalai Lama
statt. Danach hatte er ersichtlich keine Eile mit der Weiterreise. Erst
im Herbst 1909 brach er nach Lhasa auf. Im Dezember 1909 traf er dort
ein.
Bald nach der Flucht des Dalai Lama im Jahre 1904 kamen aus
Tibet beunruhigende Nachrichten über das chinesische Vorgehen. 1905
hatte der Versuch eines Ambans, in Osttibet in die Autonomie der
Klöster einzugreifen und aus dem Kloster Bathang die meisten Mönche zu
vertreiben, zu blutigen Unruhen geführt. Im Jahr 1906 ließ der General
Zhao Erfeng Truppen gegen weitere Klöster marschieren, plünderte sie,
schlachtete Mönche teilweise regelrecht ab und wurde so zum
meistgehassten Mann in Tibet. 1907 besetzte er das südliche Kham
militärisch und requirierte von der dortigen Bevölkerung
entschädigungslos den Großteil der Getreidevorräte. 1908 verstärkte er
seine Truppen und schickte sich zum Einmarsch in Zentraltibet an. Ein
Protest der tibetischen Regierung gegen dieses militärische Vorgehen
scheiterte an der Weigerung des Ambans, diesen Protest an die
kaiserliche Regierung weiter zu leiten. Vielmehr wurden die Truppen
weiter verstärkt und rückten auf Lhasa vor. Der Einmarsch in die Stadt
am 12. Februar 1910 glich einem feindlichen Sturmangriff.
Polizeieinheiten und Regierungsgebäude wurden beschossen.
Der Dalai
Lama verließ die Hauptstadt nur zwei Monate nach seiner Rückkehr
fluchtartig in Richtung Sikkim, wo er am 21 Februar 1910 eintraf. Am
25. Februar 1910 erklärte die chinesische Regierung ihn für abgesetzt.
Er richtete ein Hilfeersuchen an die britische Regierung und traf im
März 1910 in Kalkutta mit dem Vizekönig von Indien Lord Minto zusammen.
Diplomatische Interventionen der britischen und der russischen
Regierung zugunsten eines Rückzuges der chinesischen Truppen blieben
ergebnislos.
Nach Ausbruch der chinesischen Revolution im Oktober
1911 wurden die Soldaten jedoch sehr schnell abgezogen. Im Frühjahr
1912 gab es nur noch eine kleine chinesische Garnison in Lhasa. Am 12.
Juni 1912 kehrte der Dalai Lama aus Indien zurück und hielt feierlich
Einzug in Lhasa.
Einzelnachweise
Literatur
deutsch:
-
Roland Barraux: Die Geschichte der Dalai Lamas. Göttliches Mitleid und
irdische Politik. Komet, Frechen 2000, ISBN 3-933366-62-3
-
Völkerkundemuseum der Universität Zürich, Martin Brauen (Hrsg.): Die
Dalai Lamas. Tibets Reinkarnationen des Bodhisattva Avalokiteshvara.
Arnold, Stuttgart 2005, ISBN 3-89790-219-2
- Michael von Brück: Religion und Politik im tibetischen Buddhismus. Kösel, München 1999, ISBN 3-466-20445-3
-
Karl-Heinz Golzio, Pietro Bandini: Die vierzehn Wiedergeburten des
Dalai Lama. O. W. Barth Bei Scherz, 2002, ISBN 3-502-61002-9
Andreas Gruschke: Dalai Lama. Diederichs, Kreuzlingen – München 2003, ISBN 3-7205-2461-2
- Günther Schulemann: Die Geschichte der Dalai Lamas. Harrassowitz, Leipzig 1958
Thomas Laird: Tibet – Die Geschichte eines Landes. S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-502-15000-1
-
Dalai Lama und Laurens van der Muyzenberg: Führen, Gestalten, Bewegen:
Werte und Weisheit für eine globalisierte Welt. Campus, Frankfurt am
Main 2008, ISBN 978-3-593-38687-4
- Claude B. Levenson: Dalai-Lama. Die autorisierte Biographie des Nobelpreisträgers. Patmos, 2004, ISBN 978-3-491-69415-6
- Alexander Norman: Das geheime Leben der Dalai Lamas. Lübbe, 2007, ISBN 978-3-7857-2284-8
Sabine Wiegand: Dalai Lama XIV. Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-50673-4
englisch:
-
Yá Hánzhāng 牙含章: The Biographies of the Dalai Lamas. Foreign Languages
Press, Beijing 1993, ISBN 7-119-01267-3 (Originaltitel: Dálài Lǎmá
chuán 达赖喇嘛传)
- Dung-Dkar Blo-Bzang Phrim-Las: The Merging of
Religious and Secular Rule of Tibet. Foreign Languages Press, Beijing
1993, ISBN 7-119-00672-X
Liste der Dalai
Lamas
Name / andere
Schreibweise(n) / Lebenszeit
Text aus Wikipedia
(02.02.2010)
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